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Die Aachener Frühindustrialisierung: Belgisch-deutscher Technologietransfer 1815-1860

von Silke Fengler und Stefan Krebs

Auch im Zeitalter der Globalisierung bleibt wirtschaftliches Handeln oftmals lokal und regional verwurzelt. Wenngleich viele Unternehmen heute auf weltweiten Märkten präsent sind, zeigt die anhaltende Standortdebatte in Deutschland, wie sehr sich die jeweils vor Ort herrschenden Produktionsbedingungen auf den unternehmerischen Erfolg auswirken. Unternehmen entstehen genau dort, wo diese Bedingungen möglichst optimal sind, und sie generieren in den jeweiligen Regionen Wachstums- und Wohlstandseffekte. Die rasante Entwicklung einer boomenden Wirtschaftsregion und das Zurückfallen bzw. sogar die Deindustrialisierung einer anderen wirft die Frage nach den Ursachen dieser räumlichen Wachstumsunterschiede auf.

Vorüberlegungen

Aachens Wirtschaftsgeschichte zeigt deutlich, wie günstige institutionelle Rahmenbedingungen, bereits vorhandenes unternehmerisches Kapital und Potenzial und eine bedeutende Nachfrage im Beginn des 19. Jahrhunderts gute Voraussetzungen für unternehmerisches Handeln und Wirtschaftswachstum boten. Im Vergleich zu anderen Regionen in Deutschland, aber auch zum europäischen Ausland, nahm Aachen im Prozess der Industrialisierung eine Vorreiterrolle ein. Anders als etwa die „klassischen“ Industrieregionen des Ruhrgebiets oder Sachsens kam in Aachen ein weiterer Faktor hinzu, der die wirtschaftliche und technologische Entwicklung dieser Region am Beginn der Industrialisierung nachhaltig prägen sollte: der umfangreiche Transfer von Kapital und technischem Know-how durch belgische Unternehmer aus dem wallonischen Grenzgebiet. Die belgische Grenzregion fungierte dabei gleichsam als Keimzelle für den Transfer englischer und belgischer Technologie, der eine weitreichende technisch-wirtschaftliche Umgestaltung des traditionsreichen Aachener Gewerbes zur Folge hatte.

Obwohl die erste atmosphärische Dampfmaschine von Newcomen bereits 1794 im Inderevier in Betrieb genommen wurde, fand der eigentliche industrielle Durchbruch im Aachener Raum erst seit den 1820er Jahren statt. So bedeutend der belgische Einfluss in der frühen Zeit auch war – er konnte die in den späten 1850er Jahren einsetzende Abwanderung von Kapital und Know-how in das zukunftsträchtigere Ruhrgebiet nicht verhindern.

Unser Vortrag fragt danach, wie sich der Technologietransfer im Untersuchungszeitraum im Einzelnen vollzog, welche Wege er nahm, wer die wichtigsten Akteure waren und welchen Einfluss er auf die Aachener Industrialisierung hatte.
Bevor wir uns im Folgenden dem belgischen Einfluss auf die Aachener Industrialisierung in der Zeit von 1815 bis 1860 zuwenden, möchten wir zunächst einige grundlegende Begriffe einführen, die den eben skizzierten Entwicklungsprozess beschreiben. Dabei werden wir auf den wirtschaftshistorischen Hintergrund der Industrialisierung bzw. das Modell der regionalen Industrialisierung eingehen. Daran anschließend stellen wir zwei theoretische Ansätze des Technologietransfers vor, die als Erklärungsmodell für die Aachener Entwicklungen dienen sollen. Um die beiden ausgewählten Fallbeispiele des belgisch-deutschen Technologietransfers in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen, werden wir die wirtschaftliche und politische Ausgangslage, wie sie sich zum Ende der Französischen Zeit in Aachen um 1815 darbot und die industriellen Verhältnisse im Geberland Belgien oder genauer in Wallonien, kurz skizzieren.

Geht man von einem einfachen volkswirtschaftlichen Drei-Sektoren-Modell des Wirtschaftsgefüges aus, also Landwirtschaft, Gewerbe bzw. Industrie und Dienstleistungen, so beschreibt der Begriff Industrialisierung einen langfristigen Prozess, bei dem der Anteil der Gewerbeproduktion an der gesamten volkswirtschaftlichen Produktion überproportional wächst. Dieser langfristige Strukturwandel war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals in England zu beobachten. Neben quantitativen Effekten, wie Beschäftigtenzahl und Wertschöpfung des industriellen Sektors, wird der Industrialisierungsprozess gleichfalls durch qualitative Veränderungen bestimmt. Dazu gehört zum einen die zunehmende Mechanisierung und Maschinisierung der Produktion, also die Einführung neuer Technik. Zum anderen geht die neue Fertigungsweise mit einer veränderten Betriebsorganisation, nämlich der Fabrik, einher. Für diese beiden Neuerungen steht sinnbildlich die Dampfmaschine. Fließen in ihr doch die Maschinisierung und die Zentralisierung der Produktion zusammen. Wenn wir uns im Folgenden der Einführung neuer Technik während der Aachener Frühindustrialisierung widmen, sollte darüber nicht vergessen werden, dass es sich lediglich um einen zwar notwendigen, aber nicht hinreichenden Teilaspekt der Industrialisierung handelt. Diese stellte auch im Aachener Raum einen äußerst komplexen technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungsprozess dar.(1) Nicht nur Wirtschaft und Technik waren davon betroffen, sondern die gesamte Struktur der Gesellschaft, also etwa die Siedlungsform, die sozialen Beziehungen in der Arbeit, im Lebensstil und im politischen System.

In der Wirtschaftsgeschichte ist es heute unbestritten, dass sich im 19. Jahrhundert nicht Nationalstaaten, sondern Regionen industrialisierten. Noch bis in die 1960er Jahre versuchten Wirtschaftshistoriker gleichwohl auf nationalstaatlicher Ebene Daten zu aggregieren und auszuwerten.(2) Dieser makroökonomische Ansatz verstellt jedoch den Blick auf die ganz unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung einzelner Regionen im Verlauf der Industrialisierung. Sie erstreckte sich nicht auf alle Regionen eines Nationalstaates bzw. erfasste diese nicht gleich intensiv und in vergleichbarer Weise. Der industrielle Entwicklungsprozess setzte sich nie flächendeckend in einem Staat durch; vielmehr konzentrierte sich die Industrialisierung immer auf wenige kleine Wachstumsinseln.(3) In Deutschland waren dies neben dem Aachener Raum beispielsweise das Bergische Land, Teile Oberschlesiens, Sachsen oder die Saarregion.
Auch machte der Prozess der Industrialisierung nicht Halt vor politischen Grenzen. Im Gegenteil: einige Grenzregionen industrialisierten sich besonders schnell, während die Entwicklung andernorts langsamer verlief bzw. diese noch gar nicht berührte. Für die Aachener Region kamen entscheidende wirtschaftliche und technologische Impulse aus dem bereits stärker industrialisierten Lütticher Raum. So wirkten die Entwicklungsunterschiede zwischen Aachen und Lüttich im Sinne von Alexander Gerschenkrons Konzept der relativen Rückständigkeit als Motor der Aachener Frühindustrialisierung.(4) Lüttich diente den Aachenern als „Maß“ bzw. „Modell“ der Industrialisierung, dem es nachzueifern galt. Der Grund für den Entwicklungsabstand zwischen den beiden benachbarten Regionen lag u.a. in den unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Vorbedingungen. Es wäre wohl treffender vom Lüttich-Aachener Technologietransfer zu sprechen, als vom belgisch-deutschen. Wie noch zu zeigen sein wird, macht es erst dann Sinn, vom belgisch-deutschen Technologietransfer zu sprechen, wenn man Aachen als Einfallstor für englische und belgische Technologie versteht, die im zeitlichen Verlauf in andere deutsche Regionen diffundierte. Das heißt, dass Aachen eine wichtige Station für den Transfer moderner Technik in das Ruhrgebiet war.(5)
Die Aachener Region im Sinne unseres Untersuchungsraumes umfasst das Gebiet zwischen Jülich, Düren, Stolberg, Monschau und Eupen, wobei der Schwerpunkt unserer Betrachtung auf der Entwicklung in Aachen, Eschweiler und Düren liegt.

Modelle des Technologietransfers

Wenden wir uns nun dem Aspekt des Technologietransfers zu. Bleibt man in dem oben angesprochenen Modell von Gerschenkron, dann bietet der Transfer von industrieller Technologie weniger entwickelten Regionen bzw. auch Nationen die Möglichkeit, um zu technologisch und wirtschaftlich fortgeschritteneren Ländern aufzuschließen. Diese Aufholjagd erfolgte im Aachener Raum auf ganz unterschiedliche Art und Weise: im Weg des Importes von Maschinen und Halbfabrikaten, der Anwerbung von qualifizierten Arbeitskräften, Wissenschaftlern, Technikern und Handwerkern, dem Erwerb von technischen Zeichnungen, Modellen und Lizenzen bis hin zur Industriespionage. Im Vergleich zu anderen frühindustrialisierten Regionen des Deutschen Reiches war für Aachen das direkte unternehmerische Engagement wallonischer Industriepioniere bzw. die Investitionen belgischen Kapitals in die Neugründung oder Erweiterung hiesiger industrieller Produktionsanlagen besonders typisch. Hinzu kam als entscheidender Faktor die unterstützende Aktivität des Staates, etwa in Form von Infrastrukturprojekten, Subventionen oder der Bereitstellung eines technischen Ausbildungssystems.
Ein Problem des – von Gerschenkron gemeinsam mit dem Sozialwissenschaftler Thorstein Veblen entwickelten – Modells liegt in dessen normativen Charakter: der Ansatz impliziert, dass eine bestimmte Richtung der technologisch-wirtschaftlichen Entwicklung als höherwertig erachtet und zur Norm erhoben wird. Die demnach weniger entwickelten Regionen oder Staaten müssen sich an dieser Norm orientieren und sie zu erreichen suchen. Verschiedene empirische Untersuchungen zum Technologietransfer zwischen Großbritannien und dem Kontinent zeigen, dass dieser von den weniger entwickelten Staaten ausgehend auch in umgekehrter Richtung verlaufen ist. Weiter zeigen diese Untersuchungen, dass die kreative Anpassung moderner Technik an die Gegebenheiten auf dem Kontinent teilweise den Ausgangsstand der britischen Technologie übertraf. Die Vorstellung eines eindimensionalen, deterministischen Prozesses greift daher zu kurz. Zudem schwingt in der Idee der Unterentwicklung eine unausgesprochene sozialdarwinistische Denkweise mit, die dem Empfängerland eine passive, minderwertige Rolle zuweist.(6)
Ausgehend von diesem catching-up-Ansatz entwickelten die beiden Wirtschaftshistoriker Ruttan und Hayami auf der Basis von Entwicklungen im Agrarsektor ein Modell zeitlich aufeinander folgender Schritte des Technologietransfers. Sie unterscheiden insgesamt drei Stufen: den „material transfer“, den „design transfer“ und schließlich den „capacity transfer“. In der ersten Phase erfolgt der Import von Maschinen, Geräten und technischen Verfahren, in der zweiten Phase folgt die Übertragung von Konstruktionsunterlagen und technischen Publikationen und in der letzten Phase der Transfer von technischem Wissen und Fertigkeiten, also dem Know-how-Transfer. Wesentlich für die dritte Phase ist die Vermittlung von technischem Wissen durch ausländische Ingenieure und Fachkräfte. Mit Hilfe dieser Experten versucht das Empfängerland, die ausländische Technologie den jeweiligen lokalen Verhältnissen anzupassen, diese also zu adaptieren.(7)
Ein Problem des Ruttan-Hayami-Modells ist die Annahme, dass es voneinander abgrenzbare Etappen des Technologietransfers gibt. Dabei wird übersehen, dass sich dieser Prozess meist kontinuierlich vollzieht und die einzelnen Stufen sich vielfältig überlagern und miteinander verbunden sind. So ist bereits der einfache Import von Maschinen an die Anwesenheit entsprechend ausgebildeter ausländischer Fachkräfte gebunden, da nur sie das technische Wissen besitzen, um diese Maschinen zu betreiben. Trotz dieser Einschränkung liegt die Stärke des Modells in der Betonung des personalen Elements des Technologietransfers.(8)
Ausgehend von diesen Vorüberlegungen soll im Folgenden der Lüttich-Aachener Technologietransfer für zwei ausgewählte Industriezweige dargestellt werden, nämlich das Eisengewerbe und den eng mit dem Aachener Textilgewerbe verflochtenen Maschinenbau. Diese exemplarische Auswahl gründet zum einen darin, dass in diesen Industriezweigen der belgische Einfluss besonders stark war. So produzierten sie wesentlich mit belgischer Verfahrenstechnik und belgischen Fachkräften. Zum anderen handelt es sich bei den genannten Branchen um sogenannte industrielle Führungssektoren, die über vielfältige Vorwärts- und Rückkopplungseffekte das industrielle Wachstum anderer Branchen stimulierten.(9)

Wallonien als Vorreiter der kontinentalen Industrialisierung

Wallonien gilt gemeinhin als eine der ersten Regionen des Kontinents, die England auf dem Weg der Industrialisierung nachfolgten. Bereits zwischen 1720 und 1800 importierten wallonische Frühindustrielle die ersten Textil- und Dampfmaschinen aus England. Die nachhaltige Industrialisierung begann in Belgien unter dem Schutz der napoleonischen Kontinentalsperre. In dieser Phase kam es zu eigenständigen technischen Entwicklungen, die einen ersten Versuch darstellten, sich vom englischen Vorbild zu lösen. Bereits zwischen 1815 und 1850 erreichte die belgische Industrialisierung ihren Höhepunkt. Am Beispiel des Industriepioniers William Cockerill bzw. dessen Nachkommen und ihres unternehmerischen Engagements in den Bereichen der Eisenerzeugung und des Maschinenbaues soll die herausragende Bedeutung und der Vorbildcharakter der wallonischen Industrie aufgezeigt werden.(10)
William Cockerill wurde 1757 in England geboren. Er arbeitete zunächst im englischen Haslington als Mechaniker in der Herstellung von Spinnmaschinen. Nach einigen Zwischenstationen kam er 1799 ins belgische Verviers, wo er zunächst für die beiden örtlichen Textilfabriken Simonis und Biolley Spinn- und Kämm-Maschinen nach englischem Vorbild baute. Ab 1807 übersiedelte er nach Lüttich, wo er seine eigene Textilmaschinen-Werkstatt errichtete. Schon nach kurzer Zeit musste er mit seiner Firma in ein größeres Gebäude umziehen und avancierte zum wichtigsten und größten Anbieter von Textilmaschinen in Wallonien. 1813 übernahm sein jüngster Sohn John anlässlich der Einheirat seiner Brüder in bedeutende Aachener und Monschauer Tuchdynastien das Lütticher Geschäft.
Zum Motor der gesamten Frühindustrialisierung im wallonisch-deutschen Grenzgebiet erwuchs die 1817 mit dem Erwerb des Schlosses Seraing an der Maas begründete Eisenhütte mit angeschlossener Maschinenbauanstalt. Hier fertigte Cockerill ab 1818 unter anderem Dampfmaschinen und hydraulische Pressen nach englischem Vorbild, deren Qualität das Unternehmen mit dem Bau eigener Maschinen schnell erreichte, so dass es ab 1820 mit den englischen Anbietern konkurrieren konnte. Ab 1825 war die Überlegenheit Cockerills in diesem Bereich erdrückend und ermutigte andere belgische Hersteller, ebenfalls den Bau von Dampfmaschinen aufzunehmen.
Mit beträchtlichen finanziellen Zuschüssen des niederländischen Königs Wilhelm I. entwickelte sich die Eisenhütte in Seraing durch die Übernahme der englischen Verfahrensinnovation in der Eisen- und Stahlherstellung zur modernsten ihrer Art in Wallonien. So wurde 1820 das auf der Verwendung von Steinkohle beruhende Puddelverfahren erfolgreich eingeführt. Das Verfahren war 1766 zuerst von Henry Cort in England entwickelt worden. Beim Puddelverfahren wird Roheisen durch Verbrennung von Steinkohle bis nahe an den Schmelzpunkt erhitzt. Durch Rühren tritt das Roheisen in Kontakt mit dem Kohlenmonoxid der Verbrennungsgase, wodurch eine definierte Entkohlung einsetzt. Der so gewonnene Schweißstahl hat einen Kohlenstoffgehalt von unter zwei Prozent, wodurch er schmied- und walzbar wird.
1821 nahm Cockerill mithilfe englischer Techniker die Herstellung von Roheisen im Kokshochofen auf. Dieses Verfahren war bereits Ende der 1730er Jahre durch Abraham Darby in England zur Anwendungsreife entwickelt worden. Trotz der Unterstützung englischer Fachkräfte vergingen annähernd fünf Jahre bis zufriedenstellende Ergebnisse erzielt wurden. Mit der erfolgreichen Aufnahme der Roheisenproduktion entstand eines der ersten modernen, vollintegrierten Hüttenwerke auf dem Kontinent. Seine herausragende Bedeutung erhielt dieses Werk nicht zuletzt dadurch, dass es zum Idealtyp und Modell für die wallonischen Schwerindustriellen wurde. Diese sollten gemäß einer an das königliche Darlehen geknüpften Bedingung jederzeit freien Zutritt zum Werk haben, um die neuen Einrichtungen und Verfahrensfortschritte in der Fabrik studieren zu können. Der Modellcharakter reichte in der Folgezeit auch über die Grenze hinaus und sollte die Aachener Entwicklung nachhaltig beeinflussen.(11) So war nach einer zeitgenössischen Aussage der Besuch in Seraing für jeden „gebildeten Reisenden“, der nach Lüttich kam, eine Selbstverständlichkeit.(12)

Aachen am Vorabend der Industrialisierung

Schon lange vor Beginn der Industrialisierung gab es im Aachener Raum eine blühende Gewerbelandschaft. Begünstigt durch lokale Standortfaktoren wie Erzlager, Steinkohlevorkommen, Holz und Wasserkraft gab es bereits im 13. Jahrhundert Eisenverhüttung und -verarbeitung in der Eifel, mit einer Verlagerung der Produktion in den Aachen-Dürener Raum im 17. Jahrhundert. Zudem war Aachen die bedeutendste Tuchstadt des Mittelalters. Hier erfolgte insbesondere die Verarbeitung von Wolle aus der Eifel. Wichtig war auch die örtliche Messing- und Zinkgewinnung, wobei sich das Zentrum der europäischen Messingproduktion um 1600 von Dinant nach Aachen und Stolberg verlagerte. Weitere wichtige Gewerbezweige waren die Kratzen- und die Nadelproduktion, die wie das Textilgewerbe im Verlagssystem organisiert waren.(13) Im Sinne des nicht unumstrittenen Modells der Protoindustrialisierung können in der frühneuzeitlichen Entwicklung des Aachener Gewerbes wohl die Vorbedingungen für die regionale Frühindustrialisierung im Aachener Raum gesehen werden.(14)
Die ohnehin günstigen Bedingungen gewannen in der Französischen Zeit zwischen 1794 und 1814/15 eine zusätzliche Dynamik, welche den Boden für den in den 1820er Jahren einsetzenden Industrialisierungsschub bereitete. Wesentliche Faktoren hierbei waren die staatlich vorgegebenen Rahmenbedingungen: Einführung der Gewerbefreiheit 1798 und die damit einhergehende Auflösung der Zünfte, die Gründung von Handelskammern, der ungehinderte – also zollfreie – Zugang zum großen französischen Markt und die Abschottung gegen die englische Konkurrenz durch die Kontinentalsperre. Dem starken Aachener Wolltuchgewerbe kamen diese Veränderungen besonders zugute. Darüber hinaus fielen in diese Zeit die Anfänge des Technologietransfers aus dem Lütticher Raum. Aachener und Monschauer Textilfabrikanten bezogen ab 1807 die ersten Textilmaschinen von der in Lüttich ansässigen Maschinenbauanstalt von William Cockerill.(15) Damit begann die allmähliche Umstellung von Hand- zur Maschinenarbeit und damit der von uns bereits oben angesprochene Prozess der Mechanisierung und Maschinisierung der frühindustriellen Tuchherstellung. 1813 heirateten zwei Söhne William Cockerills in die Burtscheider Spinnerfamilie von Philipp Heinrich Pastor und in die Monschauer Tuchmacherfamilie Scheibler ein. Mit ihrem im väterlichen Betrieb gewonnenen Know-how konnten sie die übernommenen Textilbetriebe erfolgreich modernisieren und stimulierten damit nachhaltig das örtliche Textilgewerbe.(16) Ebenfalls 1813 erhielt der Aachener Tuchfabrikant Xaver Kuetgens für eine von ihm weiterentwickelte Rauhmaschine eine Medaille auf der Pariser Gewerbeausstellung. Auch in anderen Gewerbezweigen, wie etwa der Kohleförderung im Inde- und Wurmrevier, begann man noch in Französischer Zeit dem wallonischen Vorbild zu folgen. Schon 1811 wurde auf der Grube Langenberg im Wurmrevier eine Wasserhaltungsmaschine mit Dampfantrieb installiert. Sie war nach der bereits 1794 auf der Grube Zentrum in Eschweiler montierten Newcomen-Maschine die zweite Dampfmaschine im Aachener Revier. Diese Beispiele mögen ausreichen, um zu zeigen, dass die Keimzelle für die Aachener Industrialisierung bereits in der zwar kurzen, aber wichtigen Zeit der französischen Herrschaft zu verorten ist.(17)
Mit dem Übergang zur preußischen Herrschaft 1815 erlitt insbesondere die Aachener Textilindustrie einen kurzzeitigen Konjunktureinbruch, der durch den Wegfall des französischen Marktes und die neu erstandene Konkurrenz englischer Tuche nach dem Ende der Kontinentalsperre ausgelöst wurde. Aber das Rheinland besaß jetzt innerhalb Preußens einen Wettbewerbsvorteil, da die fortschrittliche napoleonische Gesetzgebung in Kraft blieb und die vor 1814 gegründeten Institutionen – wie z.B. die Handelskammern – ihre Funktion behielten. Nicht zuletzt aus diesem Umstand schöpften die Aachener Fabrikanten ihren Optimismus, der sich z.B. in der kostspieligen Anschaffung einer Dampfmaschine durch den Tuchfabrikanten Kelleter im Jahre 1817 zeigt. Diese war zugleich die erste in der Stadt Aachen.(18) Für belgische Unternehmer war wiederum – wie zu zeigen sein wird – die neue Zollschranke zwischen Belgien und Preußen ein wichtiger Anlass, im Aachener Raum neue Fabriken bzw. Tochterunternehmen zu gründen. Spätestens seit dem einheitlichen Zolltarif für Preußen ab 1818 erschlossen sich die belgischen Fabrikanten mit der Verlagerung ihrer Produktionsstätten um wenige Kilometer – unter Umgehung der Zölle – den großen preußischen Markt.

Die Aachener Eisen- und Stahlindustrie

Die Einführung des Puddel- und Walzverfahrens im Aachener Raum

1815 gab es im Aachener und Dürener Raum fünf Eisenhütten, von denen eine, nämlich der Schmitthof in Walheim, seit vielen Jahren nicht mehr betrieben wurde.(19) Die Schevenhütte, der Junkers- und Neuenhammer sowie die Lendersdorfer Hütte erzeugten auf traditionellem Wege, d.h. im Holzkohlenhochofen Roheisen, verarbeiteten dieses in Frischfeuern weiter und fertigten daraus gewöhnliches Stabeisen. 1819 erwarben die Gebrüder Wilhelm und Eberhard Hoesch, die zuvor zwei Hüttenwerke am Kallbach bei Monschau betrieben hatten, die Lendersdorfer Hütte. Zu diesem Zeitpunkt ragte sie neben den übrigen Eisenwerken nicht sonderlich hervor.
1823 reiste Eberhard Hoesch in Begleitung des englischen Technikers Samuel Dobbs nach England, um dort das Puddelverfahren zu studieren. Solche Studienreisen, die nicht selten die Grenzen zur Industriespionage überschritten, waren ein häufig genutztes Mittel, um technisches Wissen vor Ort zu erwerben und in das Heimatland zu transferieren.
Samuel Dobbs hatte seit 1817 für Cockerill in Seraing gearbeitet und 1819 zusammen mit Englert und Reuleaux eine Maschinenfabrik in Eschweiler gegründet, drei Jahre später war er am Aufbau der Eschweiler Drahtfabrik beteiligt. Dabei handelte es sich um eine Gründung durch Aachener Fabrikanten, darunter Springsfeld, Monheim und Beissel, die unter Leitung von Friedrich Thyssen, dem Vater von August Thyssen, als erste in Deutschland Walzdraht fertigten. Der in Eschweiler produzierte Draht wurde in erster Linie in der Aachener Kratzen- und Nadelproduktion verarbeitet.
Eberhard Hoesch warb mit Dobbs´ Hilfe englische Puddler an und machte sich nach seiner Rückkehr 1824 an den Bau eines Puddelwerkes auf der Lendersdorfer Hütte. 1826 konnte bereits erfolgreich ein hiesiges Holzkohlenroheisen gefrischt werden, wobei das neue Verfahren bereits im zweiten Jahr eine Verdoppelung der Formeisenproduktion ermöglichte. Der Einsatz englischer Puddler und die zentrale Rolle von Samuel Dobbs legen nahe, dass es sich in diesem Fall um einen direkten englisch-deutschen Technologietransfer handelte. Dafür würde auch sprechen, dass zu jener Zeit auch das Cockerillsche Werk in Seraing durchaus noch auf die Hilfe englischer Fachkräfte angewiesen war. Andererseits hatte Dobbs sein technisches Wissen zu einem großen Teil in Seraing erworben, und auch viele der englischen Puddler arbeiteten abwechselnd in englischen, belgischen, französischen und deutschen Eisenwerken.(20) Dabei entwickelten sie natürlich ihre Fähigkeiten beständig fort und passten sich den jeweiligen Bedingungen an. So lässt sich nicht mehr eindeutig verorten von wo nach wo technisches Wissen und Fertigkeiten letztlich gelangten. Es zeigt sich dagegen, dass die modellhafte Vorstellung des Technologietransfers als Einbahnstraße von einem fortgeschrittenen Geber- in ein unterentwickeltes Nehmerland nur eine begrenzte Erklärungskraft besitzt.
Zurück nach Lendersdorf: nachdem man bereits zu Beginn der 1830er Jahre die Anlagen erweitert hatte, erhielt man 1836 die Erlaubnis zur Errichtung weiterer Puddelöfen und einer durch Dampfkraft angetriebenen Schienenwalzstraße. Konzeption und Bau dieser Anlagen übernahm der belgische Ingenieur Henvaux, der das Schienenwalzwerk, das zweite Werk seiner Art in Deutschland, mit Hilfe belgischer Facharbeiter bereits 1837 in Betrieb nahm. Hoesch profitierte in der Folge vom gerade einsetzenden Aufbau des rheinischen Eisenbahnnetzes. Bereits 1833 hatte ein Kölner Komitee den Bau einer Bahnstrecke von Köln nach Aachen vorgeschlagen, die bei Eupen Anschluss an die aus Antwerpen kommende belgische Bahnlinie erhalten sollte. Am 21. August 1837 erhielt die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft ihre Konzession, womit der Ausbau beginnen konnte. 1841 nahm die Rheinische Eisenbahn den Verkehr auf der Strecke zwischen Köln und Aachen auf. Der wirtschaftliche Erfolg der Lendersdorfer Hütte ist an den rasant wachsenden Produktionsmengen und der stetig ansteigenden Zahl von Beschäftigten abzulesen. Produzierte man 1827 um 10.000 Zentner Formeisen, waren es 1846 knapp 160.000 Zentner. Die Beschäftigtenzahl verzehnfachte sich zwischen 1825 und 1855.(21) Für die Anfangsjahre liegen dabei recht genaue Angaben zur Zusammensetzung der Belegschaft vor, aus denen hervorgeht, dass etwa ein Drittel der Arbeiter hochqualifizierte Fachkräfte waren – in erster Linie Puddler und Walzer.
Die Versuche, in einem eigens hierfür errichteten Hochofen Koksroheisen herzustellen, schlugen fehl. Zu Beginn der 1840er Jahre entschloss sich Eberhard Hoesch, die Roheisenproduktion vollständig einzustellen und sich ganz auf den Import belgischen und englischen Roheisens zu beschränken.
Diese Arbeitsteilung zwischen den mehrheitlich wallonischen Roheisenproduzenten und der Aachener Stahlindustrie wurde zum Modell für die weiteren Gründungen von Hüttenwerken in Düren und Eschweiler und können als wichtiger Teil des belgisch-deutschen Technologietransfers bewertet werden. Den Aachener Eisenwerken kam dabei ihre Grenzlage zugute, da sie besonders von den Zollsondertarifen für belgisches Roheisen profitierten. Diese waren Teil der preußischen Gewerbeförderung.(22)
Bereits 1832 war es unter dem Namen „Englerth & Cünzer“ zur ersten Neugründung einer Eisenhütte im Aachener Raum gekommen. Das Eisenwerk in Eschweiler Pumpe war so konzipiert, dass es ohne eigene Roheisenbasis mit dem neuen Puddelverfahren Roheisen frischen und in einem angeschlossenen Walzwerk zu Stabeisen und Eisenblechen verarbeiten konnte. Die Anlage wurde in den folgenden Jahren mehrfach erweitert und interessanterweise schon in einem technologischen Bericht aus dem Jahre 1847 als veraltet bezeichnet.(23)
Besonders deutlich wird die belgisch-deutsche Arbeitsteilung – also die Weiterverarbeitung belgischen Koksroheisens im Raum Aachen – bei der Gründung des Eisenwerks „T. Michiels & Co.“ 1842 in Eschweiler Aue.(24) Auch diese Anlage mit ihren 16 Puddelöfen, drei Walzstraßen und einem Luppenhammer war ohne eigene Einrichtungen zur Roheisenproduktion errichtet worden. Das Roheisen bezog man stattdessen vom Hochofenwerk Cockerills in Seraing, mit dem aus diesem Anlass ein langfristiger Liefervertrag geschlossen wurde. Aufgrund der bewusst so gewählten Lage des Eschweiler Werkes unmittelbar an der Strecke der Rheinischen Eisenbahn konnte das Roheisen aus Seraing einfach und günstig hierüber bezogen werden.
Das Gesellschaftskapital der Firma belief sich 1847 auf eine Million Thaler, wovon knapp die Hälfte von Aachener und Eupener Gesellschaftern gehalten wurde. Die andere Hälfte teilten sich die belgischen Unternehmer Michiels, Bourdouche und Ophoven. Der Mitbegründer Michiels war zugleich technischer Direktor des Werkes und damit einer der zahlreichen belgischen Technikerunternehmer, die im Untersuchungsraum an der Neugründung von Industrieunternehmen beteiligt waren. Neben den drei Gesellschaftern stammte auch ein großer Teil der Belegschaft aus Belgien, fehlte es doch vor Ort an qualifizierten Walzwerksarbeitern. Auch wallonische Puddler lassen sich namentlich nachweisen, so dass hier im Gegensatz zur Lendersdorfer Hütte bereits ein Verdrängungsprozess englischer durch belgische Puddler zu erkennen ist.(25)
Bei „T. Michiels & Co.“ kommen also eine Vielzahl von Arten des Technologietransfers zusammen. Die belgischen Gesellschafter engagierten sich mit ihren Investitionen in einem mit modernster Verfahrenstechnik ausgestattetem Werk und der Technikerunternehmer Michiels brachte das nötige Know-how zur Leitung eines solchen Werks ein. Die belgische Belegschaft besaß das nötige Fachwissen zum Betrieb der Anlagen und dank der Nähe zum Hochofenwerk in Seraing und der Sondertarife für belgisches Roheisen konnte man auf den schwierigen und kostspieligen Aufbau einer eigenen Koksroheisenbasis verzichten und sich ganz auf die Weiterverarbeitung konzentrieren.
Das Werk Eschweiler Aue erreichte bereits drei Jahre nach der Aufnahme des Betriebes die Produktionsmenge von 470.000 Zentnern Stab- und Gusseisen, eine bis dato im gesamten Aachener Raum unerreichte Menge.(26) Dank des zügigen Ausbaus – so verdoppelte sich etwa die Zahl der Puddelöfen zwischen 1845 und 1847 – blieb das Eisenwerk Michiels auch in der Folgezeit das größte Puddel- und Walzwerk im Untersuchungsraum. Dabei profitierte das Werk gleich mehrfach vom rasanten Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland. So war die Lieferung belgischen Roheisens und der Abtransport der in Eschweiler produzierten Massengüter nur mehr über den Bahnanschluss zu bewerkstelligen. Zugleich waren die Eisenbahngesellschaften die wichtigsten Kunden, sie bezogen aus Eschweiler vornehmlich Schienen, Räder und Achsen. Die Nachfrage war so groß – allein im Juni 1844 lagen Aufträge von zwölf Eisenbahngesellschaften vor –, dass man sich 1846 ganz auf die Produktion von Schienen und Rädern beschränkte; wobei die Schienenproduktion etwa 2/3 ausmachten. Der Wirtschaftshistoriker Rainer Fremdling hat in seinen Untersuchungen die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Eisenbahn als Führungssektor für die deutsche Industrialisierung aufgezeigt.(27) In diesem Sinne stellt die Nachfrage nach Schienen, Lokomotiven und Waggons einen Rückkopplungseffekt dar, der für Wachstum und Modernisierung in der Eisen- und Maschinenbauindustrie sorgt. Und der durch die Bahn ermöglichte einfache und billige Transport von Massengütern eröffnete wiederum der Schwerindustrie neue Märkte für ihre Produkte, hier spricht man von sogenannten Vorwärtskopplungseffekten.
Aufgrund des Erfolges von Eschweiler Aue entschloss sich Eberhard Hoesch 1846/47 ebenfalls ein Puddel- und Walzwerk an der Bahnlinie Köln-Antwerpen zu erbauen. Das neue Eisenwerk Eschweiler Station sollte zunächst die Lendersdorfer Hütte als Hilfswerk unterstützen, überflügelte das Stammwerk aber rasch. Geplant und erbaut wurden die neuen Anlagen unter der Leitung von Mathieu Lambert Dacier, einem belgischen Ingenieur, der ebenfalls in Seraing sein technisches Wissen erworben hatte. Eschweiler Station spezialisierte sich von Anfang an auf die Schienenproduktion, erreichte 1851 die Produktion der Lendersdorfer Hütte und übertraf sie drei Jahre später bereits um das vierzehnfache. Die Brennstoffversorgung der Puddelöfen erfolgte mit Steinkohle aus dem nahegelegenen Inderevier und, da die Lieferungen des dort ansässigen Eschweiler Bergwerksvereins bei weitem nicht ausreichten, aus Belgien, vermutlich dem Lütticher Revier. Zur Jahreswende 1846/47 war die Versorgung mit Fettkohle aus dem Inderevier so schlecht, dass sich die Handelskammer für Aachen und Burtscheid beim preußischen Finanzministerium erfolgreich für eine Senkung des Zolltarifes auf die Einfuhr von belgischer Steinkohle einsetzte. Hier wird deutlich, dass die neue Steinkohlentechnik ohne die Versorgung mit belgischen Rohstoffen – Kohle und Roheisen – im Aachener Raum kaum hätte Fuß fassen können. Die Lieferung belgischer Rohstoffe und Halbzeuge war also eine der wesentlichen Vorbedingungen für den erfolgreichen Technologietransfer im Bereich der Puddel- und Walzwerkstechnik.
Auf eine weitere Neugründung unter belgischer Beteiligung sei kurz hingewiesen. Der Eisenbahnboom der 1840er Jahre führte dazu, dass die Eisenwerke des Aachener Raumes kaum der Nachfrage der Eisenbahngesellschaften nachkommen konnten und darüber ihre kleineren Kunden, wie den in Aachen ansässigen Maschinenbau, vernachlässigten. Darüber hinaus führte die anhaltende Nachfrage bei knappem Angebot natürlich zu Preissteigerungen. Deshalb schlossen sich 1845 vier Aachener Unternehmer zusammen, um unter dem Namen „Piedboeuf & Cie.“ ihr eigenes Eisenwerk zu betreiben. Dazu erwarben der Dampfkesselfabrikant Jacques Piedboeuf, der Waggonfabrikant Jacob Talbot und die beiden Maschinenbauunternehmer Johann Leonhard Neumann und Theodor Esser das Landgut „Rothe Erde“ in Forst bei Aachen. Piedboeuf stammte aus Belgien, betrieb aber seit längerer Zeit Unternehmungen in Aachen. Konzeption und Bau des Eisenwerkes erfolgte unter Leitung des Ingenieurs Rainer Daelen. Der aus Eupen stammende Daelen hatte seine Ausbildung in Belgien erhalten und seit 1840 auf der Lendersdorfer Hütte bei Hoesch gearbeitet, wo er sein hüttentechnisches Know-how erworben hatte. Er lehnte sich bei der Konzeption des Eisenwerks Rothe Erde eng an die wallonischen Puddel- und Walzwerke an.(28) Dabei konnte er sich auch auf technische Beschreibungen der Eisenhütte von Cockerill stützen. So war etwa im „Zeitblatt für Gewerbetreibende und Freunde der Gewerbe“ 1829 eine umfangreiche Schilderung nebst Lageplan der Anlagen in Seraing erschienen.(29) Solche Publikationen sind typische Beispiele für den „design transfer“ technischen Wissens. Da es keine Überlieferung darüber gibt, welche sonstigen Unterlagen – Pläne, Zeichnungen, Beschreibungen – in den Unternehmen vorlagen, ist der Anteil des „design transfer“ nur schwer abzuschätzen. Er war aber sicher ein wichtiges, wenn auch – aufgrund des hohen Stellenwerts von tacit knowledge – ein beschränktes Mittel des Technologietransfers.
1847 erhielten die vier Gesellschafter die Permissionsurkunde für den Betrieb ihres Eisenwerkes mit 36 Puddel- und Schweißöfen, fünf Walzstraßen und einer Gießerei mit zwei Kupolöfen. Zum Antrieb insbesondere des Walzwerkes waren drei Dampfmaschinen vorgesehen. Neben Rainer Daelen sind einige wallonische Fachkräfte – insbesondere Kesselschmiede – namentlich bekannt, die bei Bau und Betrieb des Werkes tätig waren.(30) Ein Jahr nach Inbetriebnahme produzierte das neue Walzwerk mit einer Belegschaft von 270 Personen knapp 50.000 Zentner, wobei der Anteil von gewalzten Eisenbahnschienen bei rund 90 Prozent lag.(31) Nur ein weiteres Jahr später wurde das Werk Rothe Erde besonders hart von dem durch die Revolutionswirren in Frankreich und Deutschland ausgelösten Konjunktureinbruch betroffen und ging in Liquidation. 1851 bildete sich zur Wiederaufnahme des Betriebs eine mit französischem, belgischem und deutschem Kapital ausgestattete Gesellschaft unter dem Namen „Carl Ruetz & Co.“ und führte das Unternehmen bis zur erneuten, aber wiederum vorläufigen Liquidation 1860.
Das Beispiel der Einführung des Puddelverfahrens im Aachener Raum steht – trotz der Probleme des Eisenwerkes Rothe Erde – für den sehr erfolgreichen Transfer innovativer englischer Technologie mithilfe wallonischer Technikerunternehmer, Geldgeber und Facharbeiter. Dabei scheinen sich die Unternehmungen in Düren, Eschweiler und Aachen innerhalb kurzer Zeit der Puddel- und Walzwerkstechnik angenommen zu haben, so dass sie unter Mithilfe ausländischer Fachkräfte zweifelsohne mit den belgischen und englischen Produkten auch qualitativ konkurrieren konnten. Andererseits kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Aachener Eisenindustrie weiterhin einen technologischen Rückstand gegenüber Wallonien und natürlich England aufwies. Ein Beispiel mag die weiterhin bestehende Überlegenheit der belgischen Puddel- und Walzwerkstechnik verdeutlichen: Ein deutscher Ingenieur, der am Berliner Gewerbeinstitut seine Ausbildung erhalten und noch 1846 auf der Lendersdorfer Hütte mit der neuesten im Aachener Raum eingesetzten Puddel- und Walzwerksanlagen vertraut gemacht worden war, erhielt ein Jahr später ein Reisestipendium vom preußischen Finanzministerium, um eben jene Techniken in Belgien zu studieren.(32) Der technologische Vorsprung erklärt sich zumindest teilweise aus der steten inkrementellen Verbesserung der Maschinen und Anlagen in den wallonischen Eisenwerken, die sich zusehends von ihrem englischen Vorbild emanzipierten.

Die Einführung des Kokshochofens

Die Einführung der zweiten großen Verfahrensinnovation bei der Eisenerzeugung, der Nutzung von Steinkohle im Kokshochofen, verlief in unserem Untersuchungsraum nicht so reibungslos wie die Diffusion des Puddelverfahrens. Wie bereits angesprochen, verliefen diesbezügliche Versuche auf der Lendersdorfer Hütte nicht zufriedenstellend. 1846/47 betrieb Hoesch seine drei Hochöfen in Zweifallshammer und Lendersdorf traditionell mit Holzkohle, wobei das so erzeugte Roheisen fast ausschließlich zu Gusswaren verarbeitet wurde.
Ein einfacher Blick auf die 1854 im Aachener Raum erreichten Produktionsziffern von Roheisen und Formeisen zeigt, wie groß der Anreiz war, die lokale Roheisenbasis mithilfe von Kokshochöfen zu erweitern. So stand in diesem Jahr der Formeisenproduktion von einer Million Zentnern ein Eigenanteil Roheisen von lediglich 65.000 Zentnern gegenüber. Die Aachener Eisenindustrie importierte demnach über 900.000 Zentner Roheisen aus Belgien und England, was der Jahresproduktion von zehn bis zwölf Hochöfen entsprach. Die Importsubstitution durch den Aufbau eigener Produktionsanlagen war demnach das Hauptmotiv für die Gründung der Aktiengesellschaft „Concordia, Eschweiler Verein für Bergbau und Hüttenbetrieb zu Ichenberg bei Eschweiler“ im Jahre 1853. Dies geht auch eindeutig aus einem Schreiben der zu gründenden Gesellschaft an die Regierung Aachen hervor. Erklärtes Ziel war es, die Aachener Eisenindustrie unabhängig von den Zolltarifen auf ausländisches Roheisen oder allgemein von ausländischem Roheisen zu machen. Dies zeigt sich auch in der Zusammensetzung der Gesellschafter, die fast ausnahmslos aus Deutschland stammten. An den bisherigen großen schwerindustriellen Neugründungen im Aachener Raum war dagegen immer belgisches und französisches Kapital beteiligt gewesen.(33)
Die 1857 und 1858 in Betrieb genommenen drei Kokshochöfen produzierten im Durchschnitt je knapp 120.000 Zentner Roheisen im Jahr. Die erforderliche Fettkohle bezog man zu einem großen Teil von der Grube Centrum des Eschweiler Bergwerksvereins. Das Eisenerz stammte u.a. aus der Albertsgrube südlich von Hastenrath. Ob an Planung, Bau und Betrieb des Hochofenwerkes mit angeschlossener Kokerei ausländische Fachkräfte beteiligt waren, ist nicht überliefert, darf aber als sehr wahrscheinlich angenommen werden. Hatte man doch bislang im Aachener Raum keine größeren Erfahrungen mit Kokshochöfen gemacht. Wenn auch keines der Eisenwerke im Untersuchungsraum bis 1860 zu einem vollintegrierten Hüttenwerk ausgebaut wurde, so vollendete die Inbetriebnahme der Concordia doch die vertikale Strukturierung der Hüttenindustrie im Aachener Raum.

Die Aachener Schwerindustrie auf dem Weg ins Ruhrgebiet

Die Rolle Aachens als Vorreiter und Transmissionsriemen der Frühindustrialisierung wird deutlich, wenn man die unternehmerischen Entwicklungen gegen Ende des Untersuchungszeitraumes und darüber hinaus ansieht.
1852 setzte mit der Gründung einer neuen Aktiengesellschaft unter dem Namen „Phoenix, Anonyme Gesellschaft für Bergbau und Hüttenbetrieb“, die zunächst weitgehend identisch mit der Handelsgesellschaft „T. Michiels & Co.“ war, die Trendwende in der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie ein. Denn die soeben gegründete Phoenix-Gesellschaft verlagerte ab Mitte der 1850er Jahre ihre unternehmerischen Aktivitäten ins Ruhrgebiet.(34) Zu dieser Zeit stand das Werk Eschweiler Aue bereits in voller Blüte. Für die allmähliche Verlagerung des Unternehmens ins Ruhrgebiet sprachen klar die dortigen Standortvorteile, wie die sehr gute Verkehrsinfrastruktur und die großen Kohlevorkommen. So boten die für die Koksherstellung geeigneten Kohlelagerstätten die besten Voraussetzungen, um sich von der wallonischen Roheisen- und Steinkohlenbasis zu lösen. 1853 begannen in Duisburg-Ruhrort und Essen-Kupferdreh die Bauarbeiten für zwei Kokshochofenwerke. Die Planung übernahm Gilles Antoine Lamarche, ein aus Lüttich stammender Industrieller, der bei Gründung der Phoenix AG ein Aktienpaket übernommen und seine bei Velbert liegenden Eisenerzgruben eingebracht hatte. Auch er orientierte sich bei der Konzeptionierung des Werkes in Ruhrort am Modell der Cockerillschen Eisenhütte in Seraing. So wurde in Ruhrort ebenfalls ein Puddel- und Walzwerk errichtet und damit eines der ersten vollintegrierten Hüttenwerke des Ruhrgebietes. 1855 erfolgte die Fusion mit der französischen Gesellschaft „Détillieux & Co.“, die in Essen-Borbeck über ein Hochofenwerk sowie Zechen und Bergwerkskonzessionen im Ruhrgebiet und Nassau verfügte. Da sich etwa zur gleichen Zeit die wallonischen Mitbegründer aus der Phoenix AG zurückzogen, lag das Unternehmen nun in französischen und deutschen Händen. Die Verlagerung des Firmensitzes von Eschweiler nach Köln 1855 stand geradezu symbolisch für die Abkehr vom Aachener Raum. Ende der 1850er Jahre wurde mit der Umstellung der Produktion in Eschweiler Aue vom Massenprodukt Eisenbahnschiene zu Eisenbahnrädern und -achsen und dem damit verbundenen Rückgang der Produktionszahlen der Standortwechsel besiegelt.
Die Familie Hoesch verlegte erst 1870/71 ihre Aktivitäten ins Ruhrgebiet. Auch Eberhard Hoesch hatte noch 1839 den Schritt ins Ruhrgebiet gescheut, das Angebot von Jacob Mayer, gemeinsam ein Tiegelstahlwerk in Bochum zu gründen, schlug er aus. Erst sein Neffe Leopold verlagerte den Schwerpunkt des Unternehmens. Am 1. September 1871 wurde in Düren der Gründungsvertrag für ein Hüttenwerk in Dortmund geschlossen. Seine Errichtung leitete der Ingenieur Otto Reinhardt, der bereits in Lendersdorf für Hoesch gearbeitet und zwischenzeitlich das technische Büro des „Hoerder Bergwerks- und Hüttenvereins“ geleitet hatte.(35)
Auch die Wurzeln des von August Thyssen 1871 in Mülheim a.d. Ruhr gegründeten Stahlunternehmens reichen in den Aachener Raum zurück. Wie bereits kurz erwähnt, war sein Vater Friedrich Thyssen von 1834 bis 1859 Direktor der Eschweiler Drahtfabrik und erwarb durch seine Teilhaberschaft das Kapital, mit dem er anschließend in Eschweiler ein privates Bankgeschäft gründete. 1867 heiratete die Schwester von August, Balbina, den aus einer wallonischen Unternehmerfamilie stammenden Désiré Bicheroux. Bicheroux beteiligte sich an einem Bandeisenwalzwerk in Duisburg, wo August Thyssen nach seiner Militärzeit Ende der 1860er Jahre das Eisengewerbe im Ruhrgebiet studierte, bevor er sich selbstständig machte und am 1. April 1871 das Unternehmen „Thyssen & Co.“ in Mülheim gründete.(36)
Von den im Aachener Raum gegründeten frühindustriellen Eisenhütten behielt nur das Werk Rothe Erde, trotz einer sehr wechselhaften Geschichte, seine Bedeutung über den Untersuchungszeitraum hinaus bei. Rothe Erde stieg in den 1890er Jahren zum weltweit größten Thomasstahlproduzenten auf und verlor erst 1918 aufgrund seiner Abhängigkeit vom Luxemburger Roheisen mit der Abtrennung Luxemburgs aus dem deutschen Zollverein seine Bedeutung.

Maschinenbau

Maschinenbau und Textilindustrie im Aachener Raum

Die Entwicklung des Aachener Maschinenbaus in der Zeit der Frühindustrialisierung ist untrennbar mit dem lokalen Wolltuchgewerbe verknüpft. Dieses war infolge eines aus dem Jahr 1816 stammenden Abkommens über den zollfreien Verkehr textiler Rohstoffe und Halbfabrikate eng mit der Textilfabrikation im Lüttich-Vervierser Grenzgebiet verbunden. Dabei kam es hinsichtlich der verschiedenen Produktionsschritte zu einer grenzübergreifenden Arbeitsteilung, bei dem die Aachener Seite hauptsächlich die Veredelung der Tuchstoffe übernahm.(37) Der Textilindustrie kam im Zuge der Frühindustrialisierung des Aachener Raumes die Rolle eines Führungssektors zu, mit bedeutenden Rückkoppelungseffekten insbesondere für die örtliche Maschinenbauindustrie. Durch die Nachfrage nach neuen, eisernen Spinn- und Rauhmaschinen, besonders aber auch nach Dampfmaschinen, welche die Wasserkraft als Antriebsaggregat ersetzten, erlebte der Aachener Maschinenbau einen bedeutenden Aufschwung.
Unter dem Einfluss belgischer bzw. englischer Textilmaschinentechnik entwickelten Werkstätten im Aachener Raum seit den 1820er Jahren Geräte, die der Maschinisierung und Zentralisierung der lokalen Tuchproduktion zum Durchbruch verhalfen. Die technische Überlegenheit speziell der wallonischen Maschinenbaubetriebe bis Mitte der 1830er Jahre hatte zur Folge, dass vielfach komplette Anlagen eingeführt wurden. Gefördert durch die preussische Gewerbepolitik kamen von den zwischen 1818 und 1851 zollfrei oder zollbegünstigt in den Aachener Raum eingeführten Dampfmaschinen 18 aus wallonischer Produktion und lediglich eine aus England. 17 der 18 im Zeitraum von 1823 bis 1844 importierten Spinnmaschinen kamen aus den Niederlanden bzw. Belgien. Auch zehn der 13 nachweislich importierten Streich- und Rauhmaschinen stammten aus dem Nachbarland.(38)
Der „material transfer“ im Sinne des Ruttan-Hayami-Modells erfolgte nicht ausschließlich im Wege des Imports der genannten Maschinen. Vielmehr geschah dieser häufig im Zuge von Unternehmensgründungen wallonischer Unternehmer vor Ort. Viele der Hersteller von Textilmaschinen aus dem Lütticher Raum, die sich in den 1820er Jahren in Aachen niederließen, brachten ihre Maschinen aus aufgelösten Werksteilen ihrer Herkunftsorte in die neugegründeten Aachener Betriebsstätten mit. Neben den belgischen Neugründungen hatten allerdings auch die hier ansässigen Textilfabriken mitunter eigene Maschinenbauabteilungen, die ausländische Geräte umänderten, um sie an ihren spezifischen Bedarf anzupassen.
Auf die große Bedeutung des direkten unternehmerischen Engagements von belgischer Seite für die Industrialisierung Aachens ist bereits hingewiesen worden. Dieses beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Anfangsphase der Frühindustrialisierung; auch Mitte der 1830er Jahre ging noch immer rund die Hälfte der im Stadtkreis Aachen produzierenden Maschinenbauanstalten auf Gründungen belgischer Maschinenbauer zurück bzw. wurden von diesen geleitet.(39) Die 1825 von John Cockerill in Aachen´errichtete Textilmaschinenwerkstätte, aber auch die zehn Jahre später kurzfristig hier bestehende kleine Maschinenbauanstalt des belgischen Industriepioniers war zwar, verglichen mit der Leitbildfunktion des Unternehmens im Dampfmaschinenbau, eher unbedeutend. Sie zeigt aber, dass Cockerill bei seiner unternehmerischen Expansion die aufstrebende Aachener Textilindustrie als bedeutenden Kunden sehr wohl im Blick hatte. Immerhin hatte bereits William Cockerill senior seine unternehmerische Laufbahn 1807 mit der Gründung einer Werkstatt für Textilmaschinenbau in Lüttich begonnen. Mit der Fertigung von Textilmaschinen nach englischem Vorbild legte er den Grundstein für das später auf Dampfmaschinenherstellung spezialisierte Geschäft. Obwohl sich in den Quellen kein direkter Beleg darüber findet, mögen die Pläne zur Errichtung des Deutschen Zollvereins die Entscheidung der Söhne William Cockerills und anderer belgischer Unternehmer begünstigt haben, im nahegelegenen Aachen ein Standbein einzurichten und dadurch die Zollschranken für den Export eigener Fabrikate zu verringern.
Dass der Technologietransfer in beträchtlichem Maße durch gut ausgebildete Facharbeiter getragen wurde, zeigt sich in der bedeutenden Zahl belgischer Maschinenbauer und Techniker, die über viele Jahre hinweg im Aachener Gewerbe tätig waren. Belgische Fachleute, die über das nötige Know-how beim Bau von Textilmaschinen verfügten, waren in verschiedenen Aachener Maschinenbaubetrieben an maßgeblicher Stelle zu finden. Als Beispiel dient die bereits erwähnte Firma „J.L. Neumann & Co.“, die 1831 unter Beteiligung des belgischen Mechanikers Lambert Daelen gegründet wurde und unter der technischen Leitung Daelens hauptsächlich Textilmaschinen produzierte. Allerdings konnten diese vielfach an lokal bereits vorhandenes handwerkliches Können, etwa in der Kratzenherstellung, anknüpfen. Den größten Anteil belgischer Fachkräfte hatten naturgemäß die belgisch beeinflussten Unternehmen. Ein möglicher Anreiz mag für das belgische Personal in der überdurchschnittlichen Entlohnung für Facharbeiter in Aachen gelegen haben.(40)
Das für das frühindustrielle Aachen charakteristische Rauh- und Kratzenmaschinengewerbe wurde zwar nicht – wie etwa die Spinnmaschinen- und Dampfkraftmaschinenerzeugung – direkt durch belgische Technologie beeinflusst. Vielmehr war diese Technologie durch den französischen Mechaniker Ambrosius Dubusc vorangetrieben worden, der in Aachen eine Werkstätte zur Fertigung von Kratzenmaschinen nach dem von ihm eigens entwickelten System errichtete und bis 1838 auch persönlich leitete. Immerhin ging eine der größten Aachener Kratzenfabriken der 1820er bis 1840er Jahre auf die Gründung des Belgiers Peter Jos. Cassalette zurück. Und bis weit in die 1850er Jahre hinein blieb die Aachener Kratzenindustrie abhängig von der Zulieferung belgischen Halbzeuges, speziell des belgischen Kratzenleders. Dies geschah zu einer Zeit, als diese den rheinischen Markt bereits weitgehend beherrschte. Dabei stellte die Aachener Textilmaschinenindustrie schon seit der zweiten Hälfte der 1820er Jahre nicht nur für englische und belgische Maschinenbauer eine ernstzunehmende Konkurrenz dar, sondern auch für Anbieter aus anderen preußischen Provinzen, wie z.B. den Wetterschen Maschinenbaubetrieb von Friedrich Harkort, der sich bei seiner Dampfmaschinenproduktion indes ausschließlich am englischen Vorbild orientierte.

Der Diffusionsprozess der Dampfmaschine im Aachener Raum

Die frühe und nachhaltige Industrialisierung Aachens zeigte sich insbesondere in der hohen Dichte von Dampfmaschinen, welche die Zahl der aufgestellten Antriebsaggregate in anderen frühindustriellen Regionen Deutschlands weit übertraf. Mit rund einem Viertel aller preußischen Dampfmaschinen – insgesamt gab es hier 61 Geräte – nahm Aachen im Jahr 1830 eine Spitzenposition ein. Die ersten Dampfmaschinen wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts vornehmlich im lokalen Bergbau zur Wasserhaltung eingesetzt und fanden dort rasche Verbreitung. Auch wenn sich die Dampfkraft in der Aachener Textilindustrie demgegenüber vergleichsweise langsamer durchsetzte, spielte sie doch spätestens seit Beginn der 1820er Jahre eine immer bedeutendere Rolle als Antriebsaggregat dieses aufblühenden Industriezweiges. Um 1830 kamen 13 von 14 städtischen Dampfmaschinen im Textilsektor zum Einsatz, vor allem beim Antrieb von Spinn- und Schermaschinen in der Wolltuchfabrikation.(41)
Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte es im Raum Aachen spezialisierte Werkstätten gegeben, in denen Wasserräder, Pumpen und Getriebe für das lokale Textilgewerbe hergestellt und repariert wurden. Ein echter qualitativer und bald auch quantitativer Sprung in Richtung eigener industrieller Fertigung von Dampfmaschinen erfolgte aber erst unter massiver Beteiligung belgischer Technologie und unternehmerischen Know-hows. Die ersten Dampfmaschinen für die Aachener Bergbau- und Textilindustrie kamen überwiegend aus dem Lütticher Raum, nicht selten aus dem Cockerillschen Werk in Seraing, der seit Mitte der 1820er Jahre zum führenden Anbieter aufstieg. Dessen dominante Stellung ging unter anderem darauf zurück, dass außer Cockerill lange Zeit kein anderer belgischer Betrieb eine Horizontalbohrmaschine besaß, die zur Herstellung hochwertiger Zylinder notwendig war. Die Produktion in Seraing war bald so umfangreich, dass die Firma nicht mehr in der Lage war, für die ausgelieferten Dampfmaschinen entsprechend fertig bearbeitete Ersatzteile mitzuliefern. Man beschränkte sich vielmehr darauf, den Kunden Rohlinge zur eigenen Weiterbearbeitung mitzuliefern.42) Neben Cockerill gab es jedoch auch eine Reihe anderer wallonischer Dampfmaschinenerzeuger, die jenseits der belgischen Grenze wegen ihrer eindrucksvollen Eigenentwicklung ein hohes Ansehen genossen. Der Lütticher Maschinenbauer Désiré Tassin erhielt beispielsweise 1826 ein Patent auf eine besonders sparsame Dampfmaschine und führte als einer der ersten in Belgien die Hochdruckmaschinen von Evans ein.
Die importierten Maschinen dienten zum einen fortlaufend als Muster für die eigene Produktion und trugen dazu bei, den technischen Vorsprung der wallonischen Maschinenbauer schrittweise aufzuholen. Zum anderen ermöglichte der zollvergünstigte Import wichtiger Maschinenteile in großen Mengen die Aufrechterhaltung einer den belgischen Dampfmaschinen vergleichbaren Qualität zu konkurrenzfähigen Preisen.
Waren die ersten Dampfmaschinen noch reine Importe, so erfolgte die Beschaffung einer zusätzlichen oder Nachfolgemaschine oftmals bei lokalen Aachener Maschinenbaubetrieben. Wie schon im Fall des Textilmaschinenbaus, handelte es sich dabei nicht selten um Neugründung wallonischer Unternehmen. Ein prominentes Beispiel für eine solche grenzüberschreitende Unternehmensgründung ist die rheinisch-belgisch-englische Maschinenbauanstalt von „Englerth, Reuleaux & Dobbs“. Sie wurde 1819/20 in Eschweiler Pumpe gegründet. Einer der Gründer, der bereits genannte englische Techniker Samuel Dobbs, konnte sein Dampfmaschinensystem in Eschweiler stetig verbessern, was ihm neben der Bergbauindustrie auch weitere Nachfrage in der Aachener Tuchindustrie erschloss. Seit Mitte der 1820er Jahre fertigte der Betrieb darüber hinaus Dampfhammer, Transmissionen, Pumpwerke und Fördermaschinen. Die Gründung einer weiteren Maschinenbauanstalt durch Dobbs und den Aachener Wollhändler Franz Nellessen folgte im Jahre 1833. „Englerth, Reuleaux und Dobbs“ versinnbildlichen die modelltheoretische Annahme, wonach der Technologietransfer zum Motor für die Unternehmensentwicklung und sukzessive Industrialisierung des Empfängerlandes wird. Folgt man dem Modell des Technologietransfers von Ruttan und Hayami, dann lässt sich im Dampfmaschinenbau ein relativ zügiger Übergang von der Phase des „material transfers“ zum „design transfer“ feststellen. Anstelle des bloßen Imports belgischer Maschinen wurden diese vor Ort, mithilfe des umfassenden Know-hows etwa von Samuel Dobbs und dessen mitgebrachter Konstruktionspläne gebaut und vertrieben. Die weite Verbreitung von Dampfmaschinen aus Dobbs´scher Fabrikation im Raum Aachen spricht dafür, dass die vor Ort produzierten Geräte offenbar relativ bald Qualität und Preis der importierten Maschinen erreichten oder in Teilen sogar übertrafen. Die Rolle des Konstrukteurs Dobbs in diesem Prozess kann dabei nicht hoch genug eingeschätzt werden. Allerdings blieb das Eschweiler Unternehmen hinsichtlich des gerade für leistungsfähige Dampfmaschinen entscheidenden Bauteils hinter dem Konkurrenten Cockerill zurück – es gelang auch ihm nicht, den gusseisernen Zylinder der Maschine in der erforderlichen Qualität vor Ort zu beziehen oder gar selber herzustellen; diese Teile wurden vielmehr bis weit in die 1840er Jahre hinein aus Belgien importiert und oft auch durch belgische Techniker montiert. Insofern ist die verbreitete Vorstellung, der Aachener Maschinenbau habe sich schon in den 1820er Jahren vom belgischen Einfluss vollständig emanzipiert und eigenständig produziert, zu relativieren. Ob diese Maschinenteile aus technischen Gründen nicht in Aachen selbst gefertigt werden konnten oder aufgrund des günstigen belgischen Angebotes eine Eigenfertigung sich nicht lohnte, ist im Nachhinein nicht mehr zu rekonstruieren.
Der Absatz der Eschweiler Dampfmaschinen beschränkte sich im Übrigen nicht auf den Aachener Raum, sondern entwickelte sich auch überregional zu einem bedeutenden Geschäft. Hier tritt die zeitweilige Vermittlerrolle Aachens zwischen Belgien bzw. England einerseits und dem Ruhrgebiet, aber auch bis nach Sachsen deutlich zutage. Dies gilt auch für den Aachener Dampfkesselbau, der eng verbunden ist mit dem Namen Piedboeuf.(43) Der Wallone Jacques Pascal Piedboeuf hatte als einfacher Schmied im Kohlebergbau begonnen und sich in den Werkstätten von William Cockerill mit der englischen Konstruktionsweise der Dampfmaschine vertraut gemacht. In seinem Heimatort Jupille eröffnete er 1812 eine eigene kleine Kesselschmiede, die sich auf den Bau von Kesseln für Dampfmaschinen spezialisierte. Schon zwei Jahre später errichtete er die erste Dampfkesselfabrik des Kontinents in Weiden bei Aachen, dem folgte 1831 ein Zweigwerk in der Stadt Aachen, das nach seinem Tod im Jahre 1839 der älteste Sohn Jacques übernahm und weiterführte. Ein anderer Sohn Piedboeufs, Jean Pascal, wagte als einer der ersten Aachener Unternehmer wallonischen Ursprungs den Sprung in Richtung Ruhrgebiet. Zusammen mit seinen Söhnen gründete er in Düsseldorf-Oberbilk ein veritables Unternehmenskonglomerat, bestehend aus der 1857 errichteten Kesselfabrik, einem im Folgejahr gegründeten Eisenblech-Walzwerk („Piedboeuf, Dawans & Co“) sowie dem Röhrenwerk „J.P. Piedboeuf & Co“. Mit Ausnahme der Kesselfabrik handelte es sich dabei um Kooperationen mit anderen belgischen Industriellen. Piedboeuf übernahm mit diesem Schritt für viele wallonische Unternehmer, die sich später im Ruhrgebiet ansiedelten, eine Vorbildfunktion.(44)
Anders als im Fall des Piedboeufschen Dampfkesselbaus, der vom industriellen Aufschwung des Ruhrgebietes nachhaltig profitierte, wirkte sich die nachlassende Industrialisierungsgeschwindigkeit im Aachener Raum gegen Ende des Untersuchungszeitraumes dämpfend auf den Absatz der hier hergestellten Dampfmaschinen aus. Die Veränderung von Anzahl und Verteilung der aufgestellten Dampfmaschinen spiegelt die regionale Verschiebung der Industrialisierungsdynamik in Deutschland deutlich wieder. Spätestens seit den 1850er Jahren nahm der Anteil des Aachener Raumes am gesamten Dampfkraftvolumen Preussens stetig zugunsten des Saar- und Ruhrgebietes sowie Sachsens ab.(45) Zugleich verlor der Aachener Maschinenbau seine Vorreiterrolle an die florierenden Maschinenbauzentren Zwickau und Berlin.
An dieser Stelle wollen wir noch einmal auf die Rolle der Eisenbahn bei der Industrialisierung des Aachen-Dürener Raumes zu sprechen kommen. Aufbau und Unterhalt des Eisenbahnnetzes hatten nicht nur – wie gezeigt werden konnte – nachweisliche Rückkoppelungseffekte auf die hiesige Eisenwarenindustrie, die Schienen, Räder und Achsen lieferte. Mit der Gründung der Waggonfabrik „Pauwels & Talbot“ 1838 – übrigens die erste ihrer Art in Deutschland – entstand sogar ein völlig neuer Industriezweig in Aachen. Auch hier kam das entscheidende Know-how aus Belgien bzw. England. Der englische Waggonbau hatte insbesondere im Bezug auf Zubehörteile wie Achsen, Achsenhalter, Räder oder Federn bis weit in die 1840er Jahre hinein eine beherrschende Position.(46) Und doch ging es gerade im Fall des Aachener Waggonbaus – anders als etwa bei den Berliner bzw. den sächsischen Eisenbahngesellschaften – nicht darum, englische Wagen zu importieren, um sie vor Ort nachzubauen. Vielmehr spielte hier der „capacity transfer“ durch belgische Techniker, die zugleich auch Unternehmer waren, die entscheidende Rolle. Der gelernte Kutschenbauer Pierre Pauwels hatte bereits Erfahrungen bei der Wagenherstellung für die Strecke Brüssel-Mechelen gesammelt. Sein Unternehmen hatte von Brüssel aus auch Eisenbahnwagen an die Leipzig-Dresdener-Eisenbahn geliefert. Zusammen mit dem Aachener Kaufmann Hugo Jacob Talbot, der als preußischer Bürge und Kapitalgeber fungierte, erhielt er von der Rheinischen Eisenbahngesellschaft einen Auftrag zum Bau von 200 Waggons. Allerdings war auch „Pauwels & Talbot“ in den ersten Jahren nach der Gründung auf die Zulieferung wichtiger Einzelteile, wie Räder, Achsen oder Federn, aus dem benachbarten Belgien angewiesen. Reichten doch die eigenen Kapazitäten bei weitem nicht aus, um den Großauftrag im vereinbarten Zeitraum von vier Jahren zu erfüllen.(47) Bald schon entwickelte sich der Aachener Waggonbau, ausgehend von hausinternen Erfindungen und Weiterentwicklungen des Unternehmens, kurzfristig zum Branchenführer in Deutschland. Vereinzelt dienten Talbotsche Waggons sogar als Baumuster, so etwa für die München-Augsburger-Eisenbahn. Nach Fertigstellung der Rheinischen Eisenbahnwaggons geriet das Unternehmen jedoch in Absatzschwierigkeiten. Der Versuch, den eigenen Absatzradius bis in den süddeutschen Raum zu erweitern, scheiterten angesichts der akuten Wirtschaftskrise seit Mitte der 1840er Jahre sowie an der ungünstigen großen Entfernung des Werkes zur Eisenbahn und erzwangen dessen zeitweilige Stillegung. Die Neugründung des Unternehmens durch die Söhne des Firmengründers und einen Mitgesellschafter unter dem Namen „Talbot & Herbrand“ brachte eine wesentlich verbesserte Ausrüstung und Anbindung an die Aachener Industriebahn mit sich, sie konnte an die Blüte der 1840er Jahre allerdings nicht mehr anknüpfen.
Wie schon bei den Dampfmaschinen, währte auch im Maschinenbau die gute Konjunktur für die Aachener Betriebe nicht allzu lange. Bereits Anfang der 1840er Jahre wuchs die Konkurrenz der Berliner und Chemnitzer Maschinenbauanstalten, die über eine bedeutendere Betriebsgröße verfügten und als Aktiengesellschaften organisiert waren, spürbar an. Sie konnten nicht nur preiswerter produzieren, sondern lagen auch näher an den wichtigen mitteldeutschen Absatzmärkten.(48) Wenngleich Aachener Textilfabrikationsmaschinen und Eisenbahnwagen seit den 1860er Jahren international durchaus wettbewerbsfähig waren, erreichte die Branche ihre Pionierrolle aus den 1820er und 30er Jahren nie wieder. Zweifellos wuchs das Arbeitskräfte- und Unternehmerpotenzial der Branche in jener Zeit maßgeblich durch den fortwährenden Zufluss belgischer Facharbeiter und belgischen Kapitals. Sie konnte jedoch die Abwanderung vieler Unternehmen in das zukunftsträchtigere Ruhrgebiet letztlich nicht verhindern.

Fazit: Gründe, Wege und Phasen für den Wallonisch-Aachener Technologietransfer

Zusammenzufassend lässt sich festhalten, dass der Technologietransfer in den beiden untersuchten Sektoren jeweils erfolgreich verlaufen ist. Dabei sind für den belgisch-deutschen Technologietransfer im Aachener Raum zwei maßgebliche Elemente auszumachen: zum einen die institutionellen Rahmenbedingungen und zum anderen das personale Element.
Zu den staatlichen Förderungsmaßnahmen gehörten die preußische Zollpolitik und die Gewährung finanzieller Beihilfen. Die zollpolitischen Instrumente nahmen zwei verschiedene Funktionen wahr. Einerseits förderte der Staat durch die zollfreie Einfuhr von nachgewiesen innovativen Maschinen den „material transfer“ englischer bzw. belgischer Technik in den Aachener Raum. Andererseits waren Sondertarife für die Einfuhr von wallonischen Rohstoffen und Halbzeugen – wie Steinkohle, Roheisen oder Dampfzylindern – die Voraussetzung dafür, dass technologische Lücken bzw. Rückstände kompensiert werden konnten. So wäre die erfolgreiche Einführung der Puddel- und Walzwerkstechnologie in Düren und Eschweiler ohne die wallonischen Roheisenimporte undenkbar gewesen. Das gleiche gilt für den bis in die 1840er Jahre anhaltenden Import belgischer Dampfzylinder durch den hiesigen Dampfmaschinenbau.
Direkte finanzielle Beihilfen waren im Gegensatz zur wallonischen Industrialisierung dagegen eher die Ausnahme. Nur für die Maschinenbaufirmen „J.L. Neumann“ und „Gebrüder Vonpier“ sind Staatskredite überliefert.(49) Indirekte Beihilfen gewährte der Staat zum Beispiel in Form von kostenlos bereitgestellten Mustermaschinen.
Für den erfolgreichen belgisch-deutschen Technologietransfer erscheint das personale Element noch entscheidender als die eben beschriebenen institutionellen Rahmenbedingungen. Dabei kann die Rolle, welche die belgischen Technikunternehmer, Kapitalgeber und Fachkräfte bei der Implementierung moderner industrieller Technologie im Aachener Gewerbe spielten, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ein deutlicher Hinweis hierauf ist die Tatsache, dass bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes weiterhin belgische Facharbeiter Schlüsselpositionen in Aachener Unternehmen einnahmen. Ein weiterer Beleg für den besonderen Stellenwert des Technologietransfers über Köpfe sind die Studienreisen, die deutsche Techniker und Unternehmer immer wieder nach Belgien und England unternahmen, um vor Ort die neuesten Maschinen und Verfahren kennen zu lernen. Dies geschah vor allem deshalb, weil für die Beherrschung frühindustrieller Technologie ein besonders hohes Maß an tacit knowledge erforderlich war. Darunter versteht man ein technisches Wissen, das nicht kodifiziert – etwa durch technische Anleitungen und Lehrbücher – weitergegeben werden kann. Es handelt sich vielmehr um Erfahrungswissen, das nur durch eigene Anschauung und betriebliche Praxis erworben wird. Entscheidend war demnach das technische Know-how, das die hochspezialisierten ausländischen Fachkräfte der Aachener Industrie zur Verfügung stellten. Wenn in unserer Darstellung die englischen und belgischen Technikunternehmer wie z.B. Samuel Dobbs und Télémaque Michiels gegenüber der anonymen Gruppe ausländischer Fachkräfte hervorstechen, ist dies vor allem der Quellenlage geschuldet. Aber auch die Selbstdarstellungen der Unternehmer, wie auch die zahlreichen Firmenfestschriften, trugen zum Mythos der herausragenden Rolle der Technikerunternehmer bei.(50) Diese Geschichte der „großen Männer“ vermittelt insofern leicht ein falsches Bild vom personalen Technologietransfer, der im Wesentlichen natürlich von den vielen unbekannten Akteuren in der betrieblichen Praxis getragen wurde.
Wenn wir noch einmal auf die eingangs eingeführten Modelle des Technologietransfers zurückblicken, dann zeigt sich, dass beide bezogen auf das Aachener Beispiel Stärken und Schwächen hinsichtlich ihrer Erklärungskraft für die dortigen Entwicklungsprozesse aufweisen. Wie im Veblen-Gerschenkron-Modell angenommen wird, sahen die Aachener Akteure in der wallonischen Eisen- und Maschinenbauindustrie ein Vorbild, dem sie auf unterschiedlichen Wegen nacheiferten bzw. dieses zu erreichen suchten. Insofern spricht die Aachener Entwicklung für die catching-up-These des Modells. Andererseits zeigen die genannten Fallbeispiele auch die Schwächen dieses Ansatzes auf. Deuten doch die Wanderungsbewegungen der Facharbeiter zwischen England, Belgien und Deutschland darauf hin, dass der Transfer technologischen Wissens nicht ausschließlich in eine Richtung verlief. Die modelltheoretische Annahme, dass das Ursprungsland eine feststehende Norm vorgibt, die das Empfängerland nach erfolgreichem Technologietransfer erreicht, vernachlässigt den anhaltenden technologischen Fortschritt im Geberland. Erklärt sich doch daraus der auch am Ende des Untersuchungszeitraumes zu konstatierende technologische Vorsprung der wallonischen Industrie.
Vergleicht man die Annahmen aus dem Ruttan-Hayami-Modell mit der Aachener Entwicklung, dann finden die dort formulierten drei Phasen in Teilen ihre Entsprechung. Allerdings zeigt das historische Beispiel, dass anstelle einer Abfolge streng voneinander zu trennender Prozessphasen vielfach Überlagerungen und Parallelentwicklungen stattfinden. Der „material transfer“, d.h. der Import von Maschinen und Geräten, war in aller Regel untrennbar mit einem „capacity transfer“ verbunden. Waren doch für den erfolgreichen Betrieb neuer Maschinen und Anlagen entsprechend qualifizierte Arbeiter nötig, die in Ermangelung heimischer Fachkräfte aus dem Ausland angeworben wurden. Was aber auch wiederum auf die Bedeutung des personalen Elements hinweist, in dessen Betonung gerade die Stärke dieses Modells liegt.
Auch wenn Aachen Ende der 1850er Jahre seine Vorreiterrolle im Industrialisierungsprozess Deutschlands verlor, bleibt abschließend die wichtige Rolle der Aachener Industrie als Scharnier für die Einführung und Verbreitung moderner englischer bzw. belgischer Technologie im Ruhrgebiet festzuhalten. Trotz der Abwanderung vieler Unternehmen aus dem Aachener Raum blieb Aachen bis weit ins 20. Jahrhundert ein bedeutender Industriestandort. Der im Zuge des Strukturwandels nach dem Zweiten Weltkrieg forcierte Deindustrialisierungsprozess ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass man sich heute kaum mehr vorstellen kann, wie bedeutend der Aachener Raum als Scharnier für die Frühindustrialisierung gewesen ist.


Anmerkungen:

1) A. Paulinyi, Industrielle Revolution, Reinbek 1989, S. 8-10, 12-14.
2) R. Fremdling; T. Pierenkemper; R.H. Tilly, Regionale Differenzierung in Deutschland als Schwerpunkt wirtschaftshistorischer Forschung, in. R. Fremdling; R. Tilly (Hg.), Industrialisierung und Raum. Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1979, S. 9.
3) S. Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760-1970, Oxford 1981, S. 45-219.
4) Zum modelltheoretischen Konzept der relativen Rückständigkeit siehe A. Gerschenkron, Wirtschaftliche Rückständigkeit in historischer Perspektive, in: H.-U. Wehler (Hg.), Geschichte und Ökonomie, Köln 1973, S. 121-129.
5) R. Banken, Die Industrialisierung der Saarregion 1815-1914, Bd. 1: Die Frühindustrialisierung 1815-1850, Stuttgart 2000, S. 17-33 und T. Pierenkemper, Umstrittene Revolutionen. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1996, S. 159-175.
6) H.-J. Braun, Technologietransfer im Maschinenbau seit dem 18. Jahrhundert, in: K.-P. Meinicke; K. Krug (Hg.), Wissenschafts- und Technologietransfer zwischen Industrieller und Wissenschaftlich-technischer Revolution, Stuttgart 1992, S. 83-88, hier S. 83-84.
7) V.W. Ruttan; Y. Hayami, Technological Transfer and Agricultural Development, in: Technology and Culture 14 (1973), S. 119-151.
8) H.-J. Braun, Technologietransfer, S. 84-86.
9) Das Konzept der „Führungssektoren“ im Industrialisierungsprozess geht zurück auf Walt W. Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1960.
10) Vgl. hierzu und im Folgenden R. Fremdling, John Cockerill: Pionierunternehmer der belgisch-niederländischen Industrialisierung, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 26 (1981), S. 179-193.
11) H. Lotz, John Cockerill in seiner Bedeutung als Ingenieur und Industrieller 1790-1840, in: Beiträge zur Geschichte der Technik und Industrie 10 (1920), S. 103-120, hier: S. 107f. und R. Leboutte, Die Emanzipation Walloniens von der englischen Technik im 19. Jahrhundert, in: V. Benad-Wagenhoff; A. Paulinyi; U. Wengenroth (Hg.), Emanzipation des kontinentaleuropäischen Maschinenbaus vom britischen Vorbild, Darmstadt 1990, S. 75-87, hier: S. 75-84.
12) H. Weber, John Cockerill und seine Unternehmungen. Nebst einer Beschreibung der großen Eisen- und Maschinen-Fabrik zu Seraing, bei Lüttich, im Königreich der Niederlande, in: Zeitblatt für Gewerbetreibende und Freunde der Gewerbe 9 (1829), S. 129-176, hier: S. 131. Vgl. hierzu auch H. Seeling, Wallonische Industrie-Pioniere in Deutschland, Lüttich 1983, S. 20-28.
13) C. Erdmann, Aachen im Jahre 1812. Wirtschafts- und sozialräumliche Differenzierung einer frühindustriellen Stadt, Stuttgart 1986, S. 33-38. Vgl. auch G. Fehl; D. Kaspari-Küffen; L-H. Meyer (Hg.), Mit Wasser und Dampf... . Zeitzeugen der frühen Industrialisierung im Belgisch-Deutschen Grenzraum, Aachen 1991.
14) So rekrutierte sich beispielsweise aus dem im Raum Aachen ansässigen Reservoir an handwerklich versierten Arbeitskräften eine Unternehmerschicht, die auf das im Verlagswesen akkumulierte Kapital gestützt zum Träger der Industrialisierung wurde. Vgl. A. Faridi, Theoretische Grundlagen und Modell der regionalen Industrialisierung, in: grenzenLos 3 (2004), S. 112-132, hier: S. 129f.
15) Die erste Spinnmaschine aus der Cockerillschen Maschinenbauanstalt in Lüttich ging 1807 in Aachen in Betrieb. Vgl. A. Korr, Die Einführung der Dampfkraft in der Aachener Industrie bis zum Jahre 1931, Diss. Tübingen 1921, S. 36f. Vgl. auch H.-K. Rouette, Aachener Textilgeschichte(n) im 19. und 20. Jahrhundert, Aachen 1992, S. 57-59.
16) H.-K. Rouette, Der historische Umbruch der Aachener Tuchherstellung vom Handwerk zur Industrie, in: G. Fehl; D. Kaspari-Küffen; L-H. Meyer (Hg.), Mit Wasser und Dampf... . Zeitzeugen der frühen Industrialisierung im Belgisch-Deutschen Grenzraum, Aachen 1991, S. 172-173, hier: S. 173.
17) H. Lotz, John Cockerill, S. 104-107.
18) H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung im Aachener Raum, ca. 1820-1860, Diss. Trier 1997, S. 230.
19) Vgl. hierzu und im Folgenden H. Schainberg, Wirtschaftliche Verflechtungen des Aachener Raumes mit Belgien in der Frühindustrialisierung, in: Rheinische Vierteljahresblätter 1996, S. 185-204, hier: S. 194-195 und 200-201.
20) U. Troitzsch, Belgien als Vermittler technischer Neuerungen beim Aufbau der eisenschaffenden Industrie im Ruhrgebiet um 1850, in: Technikgeschichte 39 (1972), Nr. 2, S. 142-158, hier: S. 150.
21) H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung, S. 75 und 80-81.
22) Siehe hierzu R. Fremdling, Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19. Jahrhundert. Die Eisenindustrien in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland, Berlin 1986, S. 117-138.
23) H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung, S. 93-94.
24) Siehe zur Firmengeschichte H. Seeling, Télémaque Fortuné Michiels, der Phoenix und Charles Détillieux. Belgiens Einflüsse auf die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert, Köln 1996, S. 9-66.
25) H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung, S. 184f.
26) Ebd., S. 95.
27) R. Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 1840 - 1879. Ein Beitrag zur Entwicklungstheorie und zur Theorie der Infrastruktur, Dortmund 1985.
28) H. Becker, Aachener Hütten-Aktien-Verein Rothe Erde bei Aachen. Festschrift für den 60jährigen Gedenktag der Inbetriebnahme seiner Werksanlagen 1847, Aachen 1907.
29) H. Weber, John Cockerill und seine Unternehmungen, S. 131.
30) K. van Eyll, Unternehmerkräfte und Technologietransfer im Dreiländereck zwischen Maas und Inde während der Frühindustrialisierung, in: F. Schinzinger; I. Zapp (Hg.), Prägende Wirtschaftsfaktoren in der Euregio Maas-Rhein. Historische und aktuelle Bezüge, Aachen, 1987, S. 16-24, hier: S. 19.
31) H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung, S. 101.
32) H. Schainberg, Wirtschaftliche Verflechtungen, S. 201.
33) Vgl. auch im Folgenden H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung, S. 217-219.
34) H. Seeling, Télémaque Fortuné Michiels, S. 67-116.
35) H. Mönnich, Aufbruch ins Revier. Aufbruch nach Europa. Hoesch 1871-1971, Dortmund 1971, S. 76f. und 91-93.
36) S. Wegener, Die Familie Thyssen in Aachen-Eschweiler und in Mülheim a.d. Ruhr, in: H.A. Wessel (Hg.), Die Geschichte einer Familie und ihrer Unternehmung, Stuttgart 1991, S. 13-52, hier: S. 15 und 24f.
37) H.-K. Rouette, Der historische Umbruch, S. 172.
38) H. Schainberg, Wirtschaftliche Verflechtungen, S. 191.
39) H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung, S. 287
40) G. Adelmann, Der gewerblich-industrielle Zustand der Rheinprovinz im Jahre 1836. Amtliche Übersichten, Bonn 1967, S. 98.
41) H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung, S. 226 und 229.
42) R. Leboutte, Die Emanzipation Walloniens von der englischen Technik im 19. Jahrhundert, S. 77f.
43) C. Bruckner, Zur Wirtschaftsgeschichte des Regierungsbezirks Aachen, Köln 1967, S. 172f.
44) H. Seeling, Wallonische Industrie-Pioniere, S. 52-69. Dort finden sich auch Hinweise zur Beschäftigung von belgischen Fachkräften in den Aachener und Düsseldorfer Werken.
45) H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung, S. 262.
46) H. Wagenblass: Der Eisenbahnbau und das Wachstum der deutschen Eisen- und Maschinenbauindustrie 1835 bis 1860. Ein Beitrag zur Geschichte der Industrialisierung Deutschlands, Stuttgart 1973, S. 25.
47) Ebd., S. 42.
48) So die Einschätzung des Aachener Landrates in einem Bericht an die Regierung Aachen, zitiert bei H. Schainberg, Die belgische Beeinflussung der Frühindustrialisierung, S. 306.
49) Ebd., S. 310.
50) Besonders auffällig ist hierfür die Stolberger Industriegeschichtsschreibung, die bis in die 1980er Jahre von „schreibenden Unternehmern“ dominiert wurde. Der geschichtswissenschaftliche Wert dieser Werke ist – nicht zuletzt aufgrund ihrem Hang zur Mythenbildung – als sehr gering einzuschätzen.