von Peter Johannes Droste
Der vielleicht berühmteste Roman des wilhelminischen Zeitalters, der wie kaum ein anderer Einblicke in die deutsche Seele der Jahrhundertwende gewährt, und längst vom Skandal zur obligatorischen Schulbuchlektüre avanciert ist, bedarf keiner neuen Interpretationen (1). Trotzdem hält das Oevre Heinrich Manns mannigfache Überraschungen bereit. Während kaum eine Regung des prominenten Dichterbruders Thomas Mann unkommentiert blieb (2), ist das Werk Heinrichs, Chronist und Kritiker des Wilhelminismus, das "unentdeckteste" (3). Es ist weder bibliographisch gesichert noch hinreichend gesichtet (4). Die umfangreichen Tagebücher sind nicht ediert (5).
Dem schreibenden Bruderpaar war jene Epoche, die schimärenhaft Vormärz, Biedermeier, Frühkapitalismus oder Industrialisierung genannnt wird, nicht nur zeitlich noch näher als uns. Sie selbst waren Zeitgenossen des Wilhelminismus, der Hochzeit der Industrialisierung, die seit der Reichsgründung, dem Geburtsjahr Heinrichs, 'Gründerzeit' genannt wurde. Heinrichs Roman erschien während des Ersten Weltkrieges (1916), war aber zu Beginn des neuen Jahrhunderts, dem Zeitalter des Jugendstils und des Expressionismus' entstanden. Beide Brüder zählen zu den besten Erzählern des 20. Jahrhunderts: Der Jüngere, Ästhet, der hypochondrierend und höchst artifiziell zunächst die latent morbide, dekadente großbürgerliche Welt des Fien de siécle unsterblich machte und während des Dritten Reiches für das kultivierte Deutschland stand, der Ältere, der stets kritisch vom Bruder begleitet, zum fast zu hellsichtiger Kritiker sozialer Mißstände im wilhelminischen Deutschland wurde.
Der in den 20er Jahren noch 'unpolitische' Thomas Mann kritisierte deshalb auch die hier untersuchte 'Realsatire' seines Bruders, die soviel Typisches enthielt, ungewöhnlich scharf. Ganz in Annäherung an sein Vorbild Goethe (6), sah er eine Gefahr darin, "wenn die Satire zum Politischen, zur Sozialkritik hinabsteigt, kurz, wenn der expressioniostisch-satirische Gesellschaftsroman auf den Plan tritt" (6). In seinen (national)konservativen, unpolitischen "Betrachtungen", die er nach eigener Läuterung (durch Distanz zum Nationalsozialismus) mit dem Etikett "falschverstanden" versehen sehen wollte, sah er im Roman des Bruders eine "politische, internationale Gefahr" (7).
Staatstragend sprach er damals dem Roman jeglichen Realitätsgehalt und gesellschaftliche Relevanz ab: "Denn ein sozialkritischer Realismus ohne Impression, Verantwortlichkeit und Gewissen, der Unternehmer schilderte, die es nicht gibt, Arbeiter, die es nicht gibt, soziale 'Zustände', die es allenfalls ums Jahr 1850 in England gegeben haben mag, und der aus solchen Ingredienzien seine hetzerisch-liebenden Mordgeschichten zusammenbraute, - eine solche Realsatire wäre ein Unfug, und wenn sie einen vornehmen Namen verdiente, einen vornehmeren als den der internationalen Verleumdung und der nationalen Ehrabschneiderei, so lautete er: Ruchloser Ästhetizismus"(8). Starke Worte, die, wenn sie zuträfen, die Brauchbarkeit des Romans für den historisch Intreressierten in Frage stellten. Unbestreitbar sind die Personen des Romans, abgesehen vom Kaiser, eine Fiktion des Autors. Die Fabrikszenen in der Papiermühle des Romanhelden basieren allerdings auf sorgfältigen Recherchen und genauen Beobachtungen:
"Er (Diederich Heßling) gelangte in den Lumpensaal, und er gab sich Haltung, indem er sachkundig die Frauen überwachte, die auf Siebplatten der langen Tische die Lumpen sortierten. Als eine kleine Dunkeläugige es unternahm, ihn aus ihrem bunten Kopftuch heraus ein wenig anzulächeln, prallte sie gegen eine so harte Miene, daß sie erschrak und sich duckte. Farbige Fetzen quollen aus den Säcken, das Getuschel der Frauen verstummte unter dem Blick des Herrn, und in der warmen, dumpfigen Luft war nichts mehr zu vernehmen als das leise Rattern der Sensen, die, in die Tische gerammt, die Knöpfe abschnitten." (9).
Das Sortieren der Lumpen (Hadern) war für die Papierqualität entscheidend: "Jedenfalls müssen weiße und farbige, wollene und baumwollene und leinene , gröbere und feinere, gebleichte und ungebleichte voneinander geschieden werden. An das Sortiergeschäft schließt sich oder geschieht mehr oder weniger gleichzeitig mit demselben das Schneiden der Lumpenmittels eines auf dem Tische fest und aufrecht stehenden sensenartigen Messers, an dessen Schneide die Lumpen, mit den Händen horizontal ausgespannt, entlanggezogen werden. Hierbei wird alles ungehörige, wie Nähte, Säume, Knöpfe und dergleichen, sorgfältig weggeschnitten und beseitigt." (10). Diese Art der Handarbeit wurde, trotz mechanischer und maschineller Alternativen (Lumpenschneider, teilweise auch durch sogenannte 'Holländer') lange beibehalten, "da der Abfall gründlicher beseitigt wird und beim Sortieren begangene Fehler noch behoben werden können." (11)
Erst die Fiktion des Unternehmers Heßling bewirkt den exemplarischen Effekt, der vom Autor von Anfang an insinuiert war.: Heßling soll der "durchschnittliche Neudeutsche sein. Einer der den Berliner Geist in die Provinz trägt. (...) Ich habe vor, daß er eine Papierfabrik haben soll, allmählich zum Fabrizieren patriotischer Ansichtskarten gelangt und den Kaiser auf Schlachtenbildern und in Apotheosen darstellt" (12).
Heinrich Mann isoliert den "Berliner Geist" des wilhelminischen Neudeutschentums, indem er ihn in die Provinz trägt. Schonungslos freigelegt, werden die Konturen dieses selbstherrlichen Patriotismus überdeutlich. Nicht vor der allerorten üblichen Neigung zum Vaterland, sondern vor der Apotheose desselben sollte gewarnt werden, weil sie schließlich zur Geringschätzung der Nachbarstaaten führen muß. Im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr diese hellsichtige Befürchtung hinreichend Bestätigung.
Auch die Profession des Neudeutschen Heßling wurde nicht dem Zufall überlassen. Abgesehen davon, daß ein Schriftsteller einen sinnlichen Bezug zu dem Beschreibstoff Papier haben mag, hat Mann wahrscheinlich die eminente Bedeutung der Printmedien erkannt. Auch in dieser Frage holte er Informationen bei Freunden ein: "Als Papierfabrikant ist er (Heßling) mit dem Regierungsblatt seines Kreises liiert. Kann ein solches Kreisblatt eine hohe Auflage haben? Auf welche Summen mag sich dabei das Geschäft des Papierfabrikanten belaufen? (...) Hast Du als Redakteur irgendwelche Erfahrung mit Regierungsleuten gehabt? (...) Ich hoffe Du findest gelegentlich Etwas für mich, und erlaubst mir, Dir auch später noch Fragen vorzulegen über den Gegenstand" (13). Ein Papierfabrikant, der die Medien über die Lieferung des notwendigen Rohstoffes kontrollieren könnte, der seine Arbeit der Apotheose des Kaisers widmet. Daß er dazu ausgerechnet kleinformatige, kitschige Postkarten auswählt, wirft ein Licht auf die Wertschätzung des Autors, der den 'Untertan' nach seinem Gusto prägte. Ursprünglich wollte er ihn sogar "Hänfling" oder "Demmling" nennen (14).
Daß sich Heinrich Mann mit den technischen Details der Papierherstellung beschäftigte, belegt auch ein Brief an seinen Freund Ewers: "In München habe ich eine große Papierfabrik und auch die Bruckmannsche Kunstanstalt eingehend besichtigt: Alles für meinen neuen Romanhelden. Er ist ziemlich gut fundiert, und heute habe ich meine ersten Sätze niedergeschrieben" (15). Mann zeigt am Aufstieg Heßlings aber nicht nur ein individuelles (wenn auch fiktionales) Schicksal, sondern auch ein typisches Phänomen des Deutschen Reiches in der Phase vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus und Imperialismus (16): "Aus dem kleinen, bösartigen, bedeutungslosen Spießer wird der moderne, kapitalistische Wirtschaftsführer, nicht mehr nur Zögling des Zeitgeistes, sondern sein Vollstrecker" (17)
Seine nationalkonservative Einstellung war damals durchaus modern, in gewisser Weise sogar innovativ, den immerhin ist Heßling Ingenieur, der die Papierherstellung modernisieren möchte:..."und dann begab Diederich sich ins Kontor und schrieb einen Brief an die Maschinenfabrik Büschli & Co. in Eschweiler, um bei ihr einen neuen Patent-Doppel-Holländer, System Maier zu bestellen" (18). Wenn Auch die Fabrik Büschli & Co. in Eschweiler (19) ebenfalls Fiktion ist, hatte der Maschinenbau in der rheinischen (damals preußischen) Provinzstadt längst Tradition. Gießereien und Dampfkesselhersteller waren dort seit dem 19. Jahrhundert ansässig (20). Allerdings belieferten sie in erster Linie die Montan- und Textilindustrie.
Der Roman reflektiert dennoch die Rheinische Industriegeschichte. Die ehemalige Rheinprovinz war für Preußen in mancherlei Hinsicht ein Musterland. Gewerbefleiß und Fabrikwesen, aber auch Kinderarbeit und soziales Elend, hatten hier Tradition. Seit napoleonischer Zeit herrschte Gewerbefreiheit. Der hemmende Einfluß der Zünfte war dadurch für immer gebrochen. Eine Errungenschaft, welche die Preußen übernahmen und beibehielten. Preußen hatte nach 1815 eine Industrieregion erhalten, die traditionell über technisches know-how verfügte. Technisches Können, Materialkunde und Verfahrenstechnik waren durch internationalen Technologietransfer seit dem Mittelalter gereift. Rohstoff- und Wissenstransfer kamen weder durch die Kontinentalsperre noch durch Grenzen oder Kriege zum Erliegen. 1852 standen im Regierungsbezirk Aachen 238 Dampfmaschinen, davon allein 152 in Aachen selbst. Im Regierungsbezirk Köln dagegen gab es ganze 90 Dampfmaschinen. (21) Dies wußte auch der preußische König und spätere Kaiser, als er 1865 den Grundstein zur 'Königlich Rheinisch-Westphälischen polytechnischen Schule zu Aachen' legte. (22).
Daß der Autor mit 'Eschweiler' auf einen realen Ort zurückgriff, mag mehr als Zufall sein. Bereits um 1930 wurden bei Reauleaux & Co. (23) in Eschweiler "Langpapiermaschinen nach dem System von Doncien (Donkin; 24) und hydraulische Pressen für Papier angefertigt" (25). Allerdings scheint das Vertrauen in die englischen Donkin-Maschinen größer gewesen zu sein (26). Der Absatz dieser Maschinen lief wohl ebenso schleppend wie das 'Patent-Holländer System Maier', der fiktionalen Firma Büschli & Co., das "schon von mehreren Papierfabriken, deren Verzeichnis beiliege, aufgestellt und erprobt" (27) worden sei. Heinrich Mann, der sich zwar nachweislich mit technischen Fragen zur Papierherstellung beschäftigte, war aber kein wirklicher Kenner der Papiermacherei, die um die Jahrhundertwende längst leistungsfähigere Maschinen kannte. Zumindest in dieser Angelegenheit lag die oben zitierte,scharfzüngige Suada des jüngeren Bruders nicht ganz falsch. Dennoch hat aber auch die Schilderung der Geschäftverbindung zwischen Heßling und der Firma Büschli & Co Beispielcharakter. Auch die Firma Reuleaux in Eschweiler beteuerte, daß die Kunden ihrer Papiermaschinen in Göppingen und Heilbronn die Güte derselben bescheinigen würden. Im Gegensatz zur Firma Keferstein & Germar zu Gröllwitz, die im Jahre 1839 behauptete: "Die in Eschweiler können nichts". Ziel dieser Antiwerbung war aber vielmehr, eine Donkin-Maschine unter Zollerleichterung einzuführen (28). Wie aus einem Bericht der IHK zu Aachen und Burtscheid hervorgeht, hatte der Ruf der rheinischen Maschinenfabriken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen schweren Stand gegen das britische Gütesiegel:
"In dieser Hinsicht besteht bei den hiesigen Fabrikanten der Wunsch, daß dem Vorurteile nicht durch Bewilligung der zollfreien und abgabeermäßigten Einganges noch Vorschub geschehe, wie dies zum Beispiel mit zwei Papiermaschinen für Düren, einer für Brachelen, einer für Grellwitz und einer für Tilsit der Fall gewesen, indem die (Aachener Fabrikanten) dadurch gezwungen werden, ihren Absatz im fernen Auslande zu suchen, wie namentlich aus dem Atelier von Emunds & Herrenkohl (29) zwei Papiermaschinen nach Ungarn, eine nach Rußland und eine nach Braunschweig geliefert worden sind" (30).
Angesichts der zweifellos antiquierten Technik-Kenntnisse des Autors ist immerhin bemerkenswert, daß uns Diedrich Heßling (hierin wirklich ein Papiermacher des 20. Jahrhunderts) als diplomierter Chemiker entgegentritt. Durch diesen Griff wird der Generationskonflikt zwischen Jung und Alt um die Variante Handwerk (Papiermühle (31), Papierschöpfer) und Industrie (Ingenieur) ergänzt. Die Nützlichkeit der Mannschen Recherche zeigt sich auch in der Andeutung zurückliegender wasserrechtlicher Probleme der Firma Heßling, die offenbar bei der Anlage der alten Papiermühle bestanden. Probleme dieser Art gehör(t)en zum Alltag des Papiermüllergewerbes bzw. der Papierfabriken (32). Die Beseitigung dieser Probleme verdankte die Familie Heßling dem "wichtigsten Herrn der Stadt" (33), dem Liberalen Buck (34), der seit 1848 für den Fortschritt gestanden und die mittelalterlichen Fesseln in Form uralter Wasserrechte beseitigt hatte. Ihm macht der 'homo novus' Heßling nach seiner Rückkehr aus Berlin eine kratzfüßige Aufwartung: "Wie oft, Herr Buck, hat mein Vater mir erzählt, daß er den Bach, ohne den wir gar nicht existieren könnten, nur Ihnen verdankt" (35). Seit dem Ende Ende des 19. Jahrhunderts spielt, neben den Ingenieuwissenschaften aber die Chemie mit ihren Ersatz- und Zusatzstoffen nicht nur bei der Papierherstellung eine wichtige Rolle. Diesen Umstand hat Mann Mann bei der Staffierung seines Helden genutzt.
Der rheinische Ausflug des gebürtigen großbürgerlichen Hanseaten, der durch das Exil schließlich zum Weltbürger wurde, zielte mit seiner Kritik auf die Repräsentanten des Wilhelminismus, des Preußen- und des Unternehmertums; wobei er seine Sympathien eindeutig den "Unterdrückten" zuwandte. Hierbei hat er auch das hochindustrialiserte Rheinland im Auge behalten. Ein literarisches und geistesverwandtes Vorbild fand der frankophile Autor in dem gebürtigen Rheinländer Heinrich Heine. Beiden gemein war nicht nur ihre engagierte Literatur, sondern auch die Liebe zu Frankreich und eine großbürgerliche, hanseatische Verwandtschaft. Heines Heimat gehörte zu jener Region zwischen Preußen und Frankreich, das von 1794-1815 französisch gewesen war. Just aus diesem Grunde war es 1815 die fortschrittlichts Provinz des Königreiches Preußen, das immerhin weitsichtig genug gewesen war, die Vorteile des Code Napoleon und den Wegfall der Zollschranken in dieser Provinz bestehen zu lassen.
Die Lieferung des Holländers aus Eschweiler ist zwar weder ein Beleg für die profunden Technikkenntnisse des Autors noch für die rheinische Abstammung Heßlings, aber immerhin eine Referenzadresse an die Papierindustrie der preußischen Rheinlande. Zweifellos war die industrielle Bedeutung dieser Provinz, die zu den vielfältigsten und bedeutendsten Industrieregionen des Kaiserreiches zählte, (36) dem Autor, gerade im Zusammenhang mit den Rüstungsaktivitäten des Ersten Weltkrieges, bekannt. Die Bedeutung des westlichensten Reichszipfels, der für zwei prägende Dezennien zu Frankreich gehörte und nach dem Rückzug Frankreichs zu den modernsten Teilen Deutschlands zählte, war nicht nur Heinrich Heine, sondern auch seinem glühenden Verehrer Heinrich Mann präsent. Nicht von ungefähr trägt der Gegenspieler Heßlings, der Arbeiterführer und Reformer Fischer, der die von Heinrich Mann kritisch betrachtete Position der damaligen SPD vetritt (37), den Vornamen des französichen Kaisers (38). Sogar der Ort Netzig, der wahrscheinlich in Brandenburg anzusiedeln ist, paßte nicht zuletzt wegen seiner typischen Endung in die ehemalige Rheinprovinz (39). In seinem Roman 'Im Schlaraffenland' verfolgte Heinrich Mann die umgekehrte Richtung des Mentaltätstransports: Der Rheinländer Andreas Zumsee aus Gumplach trifft auf die Berliner Gesellschaft.
Der 'Quellenwert' des Romans, den der Nobelpreisträger Thomas Mann (mit Verlaub) nur unvollkommen erfasst hat, liegt demnach weniger in der realen Existenz von Personen und Orten, sondern in der Zeitnähe, Beobachtungsgabe und der meisterhaft porträtrierten 'Realität' der Industrialisierung und gesellschaftlichen Veränderung der Kaiserzeit, die, obgleich - oder gerade wegen - ihrer Fiktion, in höchstem Maß authentisch geriet. Eine gewisse Überhöhung erfuhr der Roman durch Tucholsky, der den 'Untertan' als "Anatomie-Atlas des Reiches" rühmte. Darin sei nichts übertrieben. Es handele sich nicht um eine Karikatur, Parodie, Satire oder ein Pamphlet, sondern um "bescheidene Fotographie". Es ist in Wahrheit schlimmer (...)" (40). Dagegen steht die Selbsteinschätzung und Kunstauffassung des Autors, die, trotz ihrer drastischen Formulierungen, auch den Schlüssel zu den industriegeschichtlichen Elementen des Textes liefert. Bereits 1885 setzte sich Heinrich Mann vom fotographisch konkreten Realismus, wie ihn Zola (1840-1902) (41) vertreten hatte, ab:
"Mein Vorbild ist nicht der französische Fotograph, der das in seinen Rahmen, den er 'Wahrheit' nennt, mit plumper Gewissenhaftigkeit gespannte Stück Natur 'porträtiert', gleichgültig, ob es ein Engelskopf ..., nein, den gibt es ja nicht, der ist ja gar nicht natürlich, ... also ein Kohlkopf- oder ein kackender Altweiberarsch (42) ist - mein Ideal ist der deutsche Künstler, dessen Schöpfungen schön bleiben, auch wo das Sujet ein unschönes ist - selbst in den intimen Szenen der italienischen Reisebilder (43), ja selbst in der "Lutetia" (44), wo sie am schmutzigsten ist" (45).
Heine nutzte den geographisch vorgebenen Rahmen, um Sozialkritik zu transportieren, die ein partieller, aber unverzichtbarer Bestandteil seines Werkes war. Auch die Person Heßling ist, wie sein Umfeld, ein nach übergeordneten Prinzipien erstelltes Konstrukt. Obwohl die Romanhandlung im Brandenburgischen angesiedelt zu sein scheint, gibt es zahlreiche überregionale, oder - besser gesagt- provinzielle Eigenheiten, die Mann in sein Konstrukt einbezieht (46). Das gilt für Ortsnamen ebenso wie für den Liberalen Eugen Richter, der in das westfälische Industriegebiet gehört.
Heinrich Mann verband "präzises Erfassen typischer Situationen (...) mit ironischer Distanz. Die so entstehende unfreiwillige Komik enthüllt mehr 'Wahrheit', als viele Dokumente bieten können" (47). Heinrich Manns Werk ist daher mehr als Fotographie oder Dokumentation. Es ist die Verarbeitung und Interpretation von Sozial- und Zeitgeschichte, die intime Einblicke in die Lebenswelten des wilheminischen Zeitalters gestatten. Staffageartig erscheinen Informationen über die Altagswelt, die dem Transport der Zeit- und Gesellschaftskritik dienen. In Gewärtigung dieser wertenden und ironiserenden Meta-Ebene des Autors, d.h. mit quellenkritischer Brille betrachtet, hat der 'Untertan' für den Technikhistoriker, für den diese Epoche längst mehr als nur das Zeitalter der Dampfmaschine darstellt, deshalb längst nicht nur unterhaltenden Wert.
Anmerkungen:
1.) Zur neueren Forschungsliteratur vgl. Claudia Timmer, Heinrich Manns Untertan. Eine vergleichende Interpretation von Roman und Film. Magisterarbeit, Aachen 1990.
2.) Die jüngsten biographischen Arbeiten: Klaus Harprecht, Thomas Mann. Eine Biographie, 2 Bde., Reinbeck 1995 und Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie, München 1999.
3.) Wilfried F. Schoeller, Zur deutschen Chronik des Essayisten Heinrich Mann 1910-1933. Entzifferung einiger Augenblicke, Rowohlt Literaturmagazin, 21 (1988), S. 56.
4.) Vgl. ebd., S. 56.
5.) Die Briefe an Ludwig Ewers (1889-1913) sind ediert in: Ulrich Dietzel und Rosemarie Eggert, Die Briefe Heinrich Manns, Berlin-Weimar 1980.
6.) Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, zit. nach: Ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurt a.M., 1983, SA. 567.
7.) Ebd.
8.) Ebd.
9.) Der Untertan, S. 84. Zit. nach der Ausg. DTV, München 1964.
10.) Franz Reuleaux, Fabrikation des Papiers in: Ders., Einführung in die Geschichte der Erfindungen. Bildungsgang und Bildungsmittel der Menschheit. Das Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien. Rundschau auf allen Gebieten der gewerblichen Arbeit, Leipzig und Berlin, 8. Aufl. 1884, S. 409.
11.) Ebd.
12.) Brief an Ludwig Ewers, Berlin, Heinrich Mann Archiv, 468, S. 66, HMA SB 206/III.
13.) Ebd.
14.) In einem Brief (3.9.1906, HMA 2385) riet Iris Schmied, den Namen Heßling zu verwenden.
15.) Brief vom 12.6.1907 aus Nussdorf, Oberbaiern, HMA.
16.) Vgl. dazu Wolfgang Emmerich, Heinrich Mann und der Untertan, München 1980, S. 58.
17.) Ebd., S. 59.
18.) Der Untertan, S. 124.
19.) Ebd. S 124, 144 und öfters.
20.) Auch August Thyssen stammte aus Eschweiler, vgl. Klaus Ricking, Der Geist bewegt die Materie. Mens agitat molem. 125 Jahre Geschichte der RWTH Aachen, Aachen 1995, S. 12.
21.) Vgl. Peter Mennicken, Anfänge und Entwicklung der Technischen Hochschule, in: Aachen - Die Rheinisch Westfälische Technische Hochschule, Stuttgart 1961.
22.) Vgl. Ricking, Der Geist, S. 7-9. Zum Streit zwischen der Stadt Köln und Aachen vgl. ebd. sowie Mennicken, Anfänge, S. 11-12.
23.) Aus dieser ursprünglich belgischen Famile, die in Eschweiler ansässig war, stammte der berühmte Rektor der Technischen Hochsschule Berlin, der u.a. die Vorbereitung und Koordination der deutschen Sektion für die damalige Weltausstellungen inne- und das oben zitierte Werk über die Geschichte der Erfindungen verfaßt hatte. Vgl. Ricking, Der Geist, S 12. Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 416, der die Bedeutung Reuleauxs für die Entwicklung des Maschinenbaus in Lehre und Fotschung hervorhebt sowie Reuleaux, Einführung in diie Geschichte der Erfindungen, S. 401-432.
24.) Donkin, Bryan & Co., führende Papiermaschinenfabrik in London, die im 19. Jahrhundert die besten Maschinen herstellte. 1849 stand die erste Donkin-Maschine im Dürener Raum. Vgl. Geuenich, der in seiner 'Geschichte der Papierindustrie im Düren-Jülicher Wirtschaftsraum, Düren 1959' in S. 190 über einen Besuch Donkins in Düren Berichtet und aus dessen Tagebuch zitiert.
25.) Periodischer Bericht der Landesregierung zu Berlin über die Maschinenfabriken vom 7. Dezember 1838, zit. nach Geuenich, Papiergeschichte, S. 189.
26.) Die Provinzial-Steuerdirektion in Köln lehnte 1837 das Ersuchen der Firma Piette in Dillingen bei Saarlouis eine Donkin-Maschine zu erwerben mit dem Hinweis ab, daß solche Maschinen auch bei Reuleaux & Co. in Eschweiler gebaut würden. Vgl. HSTAD, Reg. Aachen, Nr. 1688, Zoll und Steuerwesen, S. 198 und Geuenich, Papiergeschichte, S. 188-189.
27.) Der Untertan, S. 144.
28.) Vgl. Geuenich, Papiergeschichte, S. 189.
29.) Aachener Papiermaschinenfabrik, HSTAD, Reg. Aachen, Nr. 1636, Neuerfundene Maschinen, erwähnt bei Geuenich, Papiergeschichte, S. 191.
30.) Bericht der IHK von 1942, Dezember 12, zit. nach Geuenich, Papiergeschichte, S. 189-190.
31.) Der liberale 48er und väterliche Freund Buck zu Heßling: "Ihr seeliger Vater hat mir oft gegenüber gesessen, und besonders häufig damals, als er die Papiermühle errichtete". Der Untertan, S. 87. Neuere Arbeiten und 'rheinische Aspekte' dazu werden genannt in: Peter Johannes Droste, Wasserbau und Wassermühlen an der Mittleren Rur. Die Kernlande des Herzogtums Jülich 8.-18. Jahrhundert. Diss. (=Aachener Studien zur älteren Energiegeschichte Bd.9, hg. von Dietrich Lohrmann), Aachen 2003.
ISBN 978-3-8322-2011-2 | Shaker
32.) Vgl. dazu Geuenich, Papiegeschichte, S. 71-105.
33.) Der Untertan, S. 86.
34.) In der Sympathie für die Person des radikalen 1848ers Buck wird die demokratische Grundeinstellung Heinrich Manns besonders deutlich.
35.) Der Untertan, S. 87.
36.) Wobei dem Autor der Unterschied zwischen dem Rheinisch-Westfälischen (Ruhrgebiet) und dem Rheinischen Industriegebiet nicht geläufig war.
37.) Vgl. Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von W. Beutin u.a., Stuttgart, 2. Aufl, 1984, S. 318.
38.) "Napoleon! So ein Name allein ist schon eine Provokation", klagt Heßling, nachdem er erfolglos versucht hatte, seinen Maschinenmeister hinauszuwerfen, Der Untertan, S. 86.
39.) Die Endungen -ig und ich weisen auf das römische -iacus und sind typisch für ehemals römisch besiedelte Gebiete.
40.) Vgl. Kurt Tucholsky, Ges. Werke, Bd. II, 1925-1928, Reinbeck 1961, S. 856.
41.) Gemeint ist v.a. sein Roman Germinal (Deutsche Ausgabe: Reclam, Stuttgart 1974), der das Elend der französischen Bergbauarbeiter in der Mitte des 19. Jahrhunderts schildert. Zola lebte während seiner umfangreichen Recherchen zeitweise bei den Bergarbeitern. Ohne Zola, so Koeppen im Nachwort der deutschen Ausgabe des Romans, wären Autoren wie "Joyce, Döblin, Faulkner, Don Passos, Böll, Grass und viele andere" nicht denkbar. "Was in Germinal beschriben wurde und erschreckte, war nachweisbar, wie es das Gesetz der Naturwissenschaft verlangte", ebd., S. 620-621.
42.) Eine Anspielung auf einen nackten Knabenpo in den Reisebildern Heines.
43.) Reise von München nach Genua. Die Bäder von Lucca (1829): Die Stadt Lucca (1830), in: Sämtliche Schriften. Heinrich Heine, Band 3, Schriften 1822-1831, hg. von Klaus Briegleb, Günter Häntschel, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1981. Die italienischen Reisebilder, die auf eine Italienreise des Jahre 1828 zurückgehen, waren mit ihrer Polemik und Satire stilbildend für den zeitweise in Italien lebenden Heinrich Mann.
44.) Heinrich Heine, Lutetia (1854), Sämtliche Schriften, Bd. 9.
45.) Ebd., S. 13f.
46.) Personen sind Gestalten der konkreten gesellschaftlichen Erfahrungswelt Heinrich Manns. "Ihre Psychologie ist jedoch vielschichtig konstruiert und verweist auf diese Darstellungsweise immanente geschichtsphilosophische Reflexion." Auch diese Psychologie hat Heinrich Mann bei Heine vorgefunden, Trapp, S. 20.
47.) Deutsche Literaturgeschichte, hg. von Beutin u.a., S. 295.